Brothers in Good Ol’ Times

Michael Sentef und Christopher Große denken über die guten alten Zeiten nach, sind aber weniger rührselig, als ihr jetzt denkt.

Von Michael Sentef & Christopher Große

Im Anfang ertönte SEIN Wort: Früher wurde doch wilder studiert. Oder entspannter. Stimmt das? Ich möchte von euch eine “back to the roots”-Glosse. Ihr habt doch Wurzeln, ihr? – Wir: Ja, klar! Ohne Wurzeln wären wir doch längst weit, weit weg, in einem fernen, unbekannten Land oder gar auf einem wilden neuen Planeten. 600 Lichtjahre … ER: Ihr schweift ab! Und bitte nicht so sentimental. Oder ausgeflippt. Oder beides. Bah, ihr wisst schon. (Alle ab.)

Voilà – die unsentimentalste Glosse der Welt, die man jemals las und bei der man dennoch in Tränen ausbrach. Wir haben früher (sehr viel früher als heute) auch einmal studiert. Der Geist von 68 durchwehte noch die Vorlesungssäle, bisweilen bahnten sich Rauchschwaden, dick wie das Fell der Bundeskanzlerin, ihren Weg durch die Gänge der Hörsaalgebäude. Studiengebühren waren ein Begriff aus einem fernen, unbekannten Land, ebenso wie Credit Points (quoi?), E-Learning oder Online-Seminarlisten. Unser Motto lautete ‘Cogito, ergo sum’. Oder wenigstens ‘Sum, ergo cogito.’ Was hätten wir auch Besseres mit unseren wilden Zwanzigern anstellen sollen?

Der eine von uns (MS) widmete sich voller Elan einem Studium der Physik. Um ganz ehrlich zu sein, es war weder besonders wild noch besonders entspannt. Es war vor allem ziemlich anstrengend, auch wenn es keine Credit Points gab. Dafür entdecken Physiker manchmal spannende Dinge. Zum Beispiel wilde neue Planeten, 600 Lichtjahre entfernt. Oder schwarze Löcher. Manchmal auch Extra-Dimensionen. Und das, wo doch die meisten von ihnen (den Physikern) schon mit den ganz normalen Dimensionen von Raum und Zeit im Alltag durchaus zu kämpfen haben. Wir waren damals jung und wollten wissen, was – ganz faustisch – die Welt im Innersten zusammenhält. Oder wenigstens, wo es im Winter den besten Glühwein gibt.

Heutzutage entdecken Physik-Studenten besonders die engen Grenzen eines hochdimensionalen 24-Stunden-Tages. Sie sollen Computer programmieren und partielle Differentialgleichungen ganz ohne Computer im Kopf lösen, die Wunder der Mathematik erforschen und sie ganz praktisch auf physikalische Probleme anwenden. Dann sollen sie noch ihre Soft Skills (what?) beherrschen und fit für den Praxis-Alltag sein, und das alles am besten in drei Jahren, denn so lange dauert der erste berufsqualifizierende Abschluss, der Bachelor (che?). Dafür darf man sie dank komplexer Prüfungsordnungsregelungen nicht mehr zwingen, ihre Hausaufgaben auch zu machen. Um ehrlich zu sein, der Zwang zu Hausaufgaben war das Nützlichste im Studium von einem von uns.

Der andere von uns (CG) hat auch einmal studiert und ist ohnehin seit Längerem der Auffassung, dass früher alles besser war. Früher gab es an der Technischen Universität, wo der andere von uns studierte, noch eine Geisteswissenschaftliche Fakultät (und Raucher-Seminare, „tolerante Nichtraucher willkommen“). Dann entschied man sich aber, dass Naturwissenschaftler solchen Blödsinn wie Philosophie und Ethik fortan nicht mehr benötigten und strich aus Versehen den Geist aus der TU. Vielleicht verschlug es den anderen von uns deshalb nach Augsburg (immer noch früher), wo er feststellte, dass die bayerischen Lehramtsstudenten zwar auch nicht mehr lernen als in Berlin, dafür aber über ein gesundes Selbstvertrauen in ihr Zentralabitur verfügen und in Bavaria auch sonst alles Gold ist, was glänzt. Besonders glänzend fand er die Erfindung der Seminarwarteliste, die es dem „Studenten“ ermöglicht, anstatt das Studierzimmer zu hüten so sinnfreien Freizeitbeschäftigungen wie Nebenjobs oder der Gründung von Hochschulmagazinen nachzugehen. Dank Magisterstudienordnung (damals) musste man sich überhaupt nicht beeilen und durfte in Ruhe zu einem aufgeklärten Menschen heranwachsen (Seligkeit).

Der eine von uns ist mittlerweile in einem fernen, unbekannten Land (Kalifornien) und sieht Studenten, die jährlich schlappe 50.000 Dollar an Studiengebühren hinblättern dürfen. (Oder deren Eltern das dürfen.) Dafür sind sie am Ende ihres vierjährigen Studiums die mittlerweile am höchsten verschuldete Bevölkerungsgruppe Amerikas. Für mickrige 1.000 Euro könnte man in diesem Land bestenfalls einmal die Toilette benutzen. Dafür weht hier die Luft der Freiheit über den sehr ausgedehnten, sehr aufgeräumten Campus. An jeder Ecke lungern Nobelpreisträger herum. Sie sind manchmal wild, manchmal entspannt und vor allem Nobelpreisträger. Rauchschwaden würde man hier keine vermuten. Und vor allem keine Langzeitstudenten – niemals.

Der andere von uns wäre auch gerne mal in Kalifornien, hat es aber – mit, aufgrund oder trotz seiner Studien – nur bis ins nahegelegene Bürocenter Messe gebracht. Immerhin bis in den sechsten Stock (was für einen Wirtschaftsethiker gar nicht verkehrt sein soll), von dem aus man bei gutem Wetter die mächtigen Gipfel der Berge sehen kann. Wir: Habemus glossem!

ER (ehrlich überrascht): Sehr schön. Und gar nicht so sentimental, wie ich vermutet habe. Nur ein ganz klein wenig ausgeflippt.

Wir (dann doch ein wenig sentimental): Dafür können wir nichts. Wir sind Kinder einer wilden Generation. [Stürmisch ab.]

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