Wir und die neue Spießigkeit

Von der multiplen Persönlichkeit einer Generation

„Wenn ich groß bin, will ich auch mal Spießer werden.“ Mit diesem Wunsch schockt ein Mädchen ihren Vater, mit dem sie in einem Campingwagen lebt. Die Botschaft des Werbespots: Sichere dich ab und spare für ein Eigenheim. Beschreibt diese „neue Spießigkeit“ wirklich dieLebensvorstellung unserer Generation? presstige hat sich damit befasst, ob in uns allen ein kleiner Spießer steckt.

 

 

Von Birgit Zurmühlen & Annika Schmidt

Carolin studiert Lehramt an der Universität Augsburg. An sich unterscheidet sich die 24-Jährige nicht von ihren Kommilitonen, doch der Schein trügt: Seit letztem November ist Carolin verheiratet. „Es war unsere freie Entscheidung zu heiraten. Ich bin mit meinem Mann schon lange zusammen, warum sollten wir diesen Schritt nicht wagen?“, sagt sie. Gerade ist das frisch gebackene Ehepaar dabei, sein neues Heim zu renovieren. Für Carolin habe sich durch die Heirat aber rein gar nichts verändert.

Die Qual der Wahl

Carolin ist laut Sozialpsychologen, Jugendforschern und Autoren eine typische Vertreterin unserer Generation „neuer Spießer“. Doch steckt diese Spießigkeit in allen von uns? In Zeitungsartikeln und Büchern liest man oft von Generation Y, Generation Flatrate oder Generation Praktikum, wenn es um die heute 20- bis 30-Jährigen geht. Dies legt nahe, dass unsere Generation gar nicht so einfach zu fassen ist. Laut Prof. Dr. Werner Schneider (siehe Interview S.???) ist unsere Generation vor allem durch Individualisierung geprägt: „Die gesellschaftliche Vorgabe ist, gestalte dein Leben mit all den Wahlchancen, die man dir gibt, aber auch all den Wahlzwängen, die man dir abverlangt.“ Doch genau damit tun wir uns schwer. Wer eine Entscheidung trifft, muss nämlich auch mit den Konsequenzen leben. Und damit, durch eine Entscheidung für eine Sache eine andere zu verpassen. Die Autorin Meredith Haaf („Heul doch“) fasst diese Ängste unter dem Begriff „Luxusprobleme“ zusammen. Verpasse ich durch mein Auslandssemester den frühen Einstieg in das Berufsleben? Aber was ist, wenn ich für solche Erfahrungen später keine Zeit mehr habe?

Alle Spießer oder was?

Die Angst vor den vielfältigen Möglichkeiten bewältigt jeder anders: Der Traditionelle sucht in dem ganzen Chaos einen sicheren Hafen im privaten Leben, der Karrierehengst hechtet von Praktikum zu Praktikum auf der Suche nach einem sicheren Job, der digitale Bohemien flüchtet in seine sichere virtuelle Welt. Das Verrückte: Wir finden uns in allen Formen ein bisschen wieder. Wir scheinen eine Generation multipler Persönlichkeiten zu sein, die mit dieser Menge an Möglichkeiten so wenig anzufangen weiß, dass sie alles gleichzeitig versucht. Von einer Generation „neuer Spießer“ zu reden, greift also zu kurz. Auch Carolin sieht sich nicht als Vertreter dieses Labels. Nur weil ein Eigenheim und eine eigene Familie hohe Priorität habe, fühle sie sich noch lange nicht spießig, zumal dann Spießigkeit mit Tradition gleichgesetzt werden würde.

Egal, wie viel Spießer nun wirklich in jedem Einzelnen von uns steckt, trotz „Luxusproblemen“ stehen wir gar nicht so schlecht da. Zwar haben wir die Qual der Wahl, wenn es darum geht, was wir mit uns und unserem Leben anfangen sollen. Aber darum würde uns so manche Generation beneiden, denn immerhin haben wir eine Vielzahl an Möglichkeiten, unsere Zukunft zu gestalten. Nur Mut zur Entscheidung! Ist sie geschafft, kann jeder mit seiner individuellen Vorstellung vom Leben durchstarten, egal ob als Spießer, Öko oder Karrierehengst.

 

Schreibe einen Kommentar