Uni Digital. Traum oder Alptraum?

Ein Zukunftsszenario

Von einer Veranstaltung zur nächsten hetzen. Vorlesungen zu Zeiten, die wirklich nicht zum eigenen Biorhythmus passen. Uni kann so grausam sein. Ist die Digitalisierung unsere Rettung?

Von Larissa Emmerling – Illustration: Katharina Netolitzky

08:15 Uhr. Erste Vorlesung des Tages. Mit Mühe und Not geschafft, nicht einzuschlafen. Schnell noch einen Kaffee und ab geht’s zur nächsten Vorlesung. Ich kann der Dozentin nicht ganz folgen. Geht irgendwie zu schnell. Wo ist der Pausenknopf? Da ich ihn nicht finde, versuche ich mein mangelndes Verständnis für die Themen durch hektisches Mitschreiben zu kompensieren. Ein Videomitschnitt der Vorlesung würde mir jetzt wirklich helfen, aber leider ist das noch eine Seltenheit an der Uni. 11:30 Uhr. Endlich aus. Erst mal in die Bibliothek und Bücher ausleihen, denn das Referat für nächste Woche will auch irgendwann einmal gemacht werden. Nachdem ich mich durch die verwinkelten und endlos erscheinenden Gänge der Uni gekämpft habe, halte ich die passenden Bücher endlich in den Händen. Schwer bepackt hetze ich zum nächsten Termin und bedauere sehr, dass der Bibliotheksbestand noch nicht digitalisiert wurde. In welchem Zeitalter leben wir eigentlich?

Nachmittags steht dann noch ein Referatstreffen an. Es war ganz schön umständlich, einen Termin zu finden und jetzt diskutieren alle wild durcheinander. Ziemlich anstrengend. Da das doch länger gedauert hat, als geplant, muss ich mich richtig beeilen, um es noch pünktlich zu meinem nächsten Seminar zu schaffen. Kurz vor knapp komme ich an und lasse mich abgehetzt auf meinen Stuhl fallen. Irgendwie hat mich der bisherige Tag richtig mitgenommen. Ich lege meinen Kopf auf die Bank und schließe die Augen. Nur kurz ausruhen. Gleich kann es weiter gehen, gleich bin ich wieder fit…

Digitalisierung. Längst überfällig.

Ich öffne die Augen. Irgendetwas ist anders. Ich fühle mich so wach und ausgeschlafen. Und warum ist es eigentlich schon so hell im Zimmer? Der Blick auf den Wecker liefert mir die Antwort: 10:00 Uhr. Das erklärt natürlich einiges. Da fällt es mir wieder ein: Nach einer Revolution an den deutschen Unis entschieden die Studenten mit einer Mehrheit von 90 Prozent, dass die Uni zukünftig nur noch digital stattfindet. Die technischen Möglichkeiten dazu gibt es ja sowieso schon längst. Diese Entscheidung war also überfällig. Ganz meine Meinung. Ich frühstücke erst einmal gemütlich und setzte mich dann an meinen Laptop. Kaum ist er hochgefahren, ertönt die freundliche Stimme von Anna, meiner persönlichen Studienkoordinatorin: „Einen wunderschönen guten Morgen! Die Lernlektion Statistik II ist abrufbar. Viel Erfolg.“ Ich bedanke mich bei Anna und schaue mir das Video an. Ich verstehe den Dozenten klar und deutlich, niemand lenkt mich ab und wenn mir das Tempo doch zu schnell wird, drücke ich einfach auf Pause. Statistik war noch nie so einfach. Als ich mich gerade zurücklehnen will, meldet sich Anna wieder zu Wort: „Die Referatsgruppe Nummer sieben lädt dich zu ihrem Gruppenchat ein.“ Alles klar. Wir besprechen also die wichtigsten Dinge für unser Online-Referat. Echt gemütlich, so von zu Hause aus. Aber eigentlich würde es mich schon interessieren, wie die anderen aussehen. Naja, unwichtig, denke ich mir. Tut ja nichts zur Sache. Jetzt besorge ich mir erst mal die Lektüre zu meinem Referat. Auf der bibliothekseigenen Homepage finde ich schnell die passenden Bücher und kann mir diese als Datei herunterladen. Dort werden mir auch zwei spannende Podcasts zu meinem Thema empfohlen, die ich mir direkt anhöre. Sehr komfortabel. Warum habe ich mich eigentlich jahrelang in die Uni geschleppt? Ist doch viel einfacher so.

Blasses Gesicht und zwei Kilo mehr.

Mittags bin ich schon fertig mit meinen Uniarbeiten. Klar, ich habe ja auch viel Zeit gespart, indem ich nicht ständig von A nach B rennen musste. Was mache ich nun mit der gewonnenen Freizeit? Ich könnte mich mal wieder bei meinen Freunden melden. Wann habe ich die eigentlich das letzte Mal gesehen? War das vor ein oder zwei Monaten? Ich kann mich nicht erinnern, muss schon ewig her sein. Leider antwortet mir niemand in unserer Facebook-Gruppe „Friends in real life“. Naja, dann gehe ich erst mal duschen, war ja bisher noch nicht nötig. Als mein Blick in den Spiegel fällt, erschrecke ich. Ein blasses Gesicht blickt mir entgegen. Außerdem könnte ich schwören, dass ich zwei Kilo zugenommen habe. Mindestens. Vielleicht sollte ich mal wieder an die frische Luft gehen. Einmal wöchentlich, um Einzukaufen, scheint, meiner Gesichtsfarbe nach zu urteilen, nicht genug zu sein. Auch der Gang von meinem Zimmer zur Küche ist wohl nicht das, was sich Mediziner unter ausreichender Bewegung vorstellen und überhaupt: Was ist eigentlich dieses Nest da auf meinem Kopf?

„Hey! Aufwachen, du bist hier nicht zu Hause!“ Die Stimme meiner Dozentin reißt mich aus dem Schlaf. „Gott sei Dank“, denke ich mir. „Das wäre ein echter Alptraum“. Vielleicht ist die echte Uni mit ihren echten Vorlesungen und echten sozialen Kontakten doch nicht so schlecht, wie gedacht.

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