Zeig mir deinen Zettel und ich sag dir, wer du bist

Geschichten aus dem Supermarkt

Eine Packung Mehl, Make-Up-Entferner und eine Flasche Wodka lagen auf dem Band an der Supermarktkasse. Die dazugehörige Käuferin kramte in ihrer Handtasche nach dem Geldbeutel. Wer sie wohl war? Und was sie mit ihren Einkäufen vor hatte? Oft erwische ich mich bei solchen Gedanken und inzwischen ist es eine Art Spiel geworden: Finde ich einen kuriosen Kassenzettel, so stecke ich ihn ein. Denn eine Quittung listet nicht nur Gekauftes auf, sondern kann (mehr als) eine Geschichte erzählen.

 

Der vorweihnachtlich gestresste Student

Nach Weihnachten stand endlich der Snowboard-Urlaub mit seinen Jungs an. Diesmal würde er sich auf jeden Fall vorher ordentlich eincremen. Der bleiche Skibrillenabdruck und die rote Nase letztes Jahr waren einfach zu peinlich gewesen. Momentan hatte er jedoch ganz andere Probleme, denn bis zum nächsten Tag musste er noch den Forschungsbericht abgeben. Das sah mal wieder nach einer schlaflosen Nacht aus. Kochen hielt er sowieso für überbewertet, Essen jedoch nicht. Also drei Tüten von diesen Studentenfutter-Sachen mitgenommen, das musste reichen. Wenn es schon so hieß, musste es wohl auch für die Grundversorgung von Studenten entwickelt worden sein.

Drei Tage noch, dann war endlich Weihnachten und seine Oma würde ihn als Lieblingsenkel bestimmt wieder reichlich bekochen. Nur auf ihre Schokoplätzchen würde er dieses Jahr verzichten müssen, denn ihr geliebtes Handrührgerät war vor ein paar Tagen kaputt gegangen. Am Telefon hatte sie ganz traurig geklungen. Es war ein Hochzeitsgeschenk gewesen und hatte fast fünfzig Jahre treu seinen Dienst geleistet. Das Gute daran: Dieses Jahr hatte er das perfekte Weihnachtsgeschenk für sie!

 

Die beziehungsunfähige Frustesserin

Es war schon ihre dritte Beziehung, die nach nur zwei Wochen in die Brüche ging. Sie sei nicht mit sich selbst im Reinen und sie solle doch erst mal ihre eigenen Probleme in den Griff bekommen, bevor sie da eine andere Person mit reinziehe. Danach hörte sie nur noch wie die Wohnungstür hinter ihm laut ins Schloss fiel. Von wegen Probleme! Ihr ging es doch super! So eine Trennung steckte sie doch weg wie nichts und der Alltag konnte weitergehen! Also erst mal Einkaufen. Mist! Zettel daheim vergessen! Naja, mit der Waffelmischung konnte man nichts falsch machen. Aber irgendwie hatte sie nun doch keine Lust mehr zum Einkaufen. Warum war sie nicht einfach im Bett geblieben? Da half nur noch Frustessen: rein in den Wagen mit dem Sahnepudding! Ach was, besser gleich noch einer… und noch einer und jetzt ab zur Kasse. Hm, der Wageninhalt sah sehr traurig und ungesund aus. Karotten im Angebot, das traf sich super. Was würden die Leute auch denken, bei dem ganzen Süßkram. Die würden ja denken, sie hätte ein Problem oder so…

 

 

Die nachgiebige Mutter

Natürlich fand sie Niklas bei den Kühlregalen. “Mama, Mama, darf ich Fruchtzwerge? Bitteee?”, krähte er ihr entgegen. “Ausnahmsweise”, sagte sie und hatte wie jede Woche ein schlechtes Gewissen, weil sie ihn verzog. Jetzt brauchte sie nur noch eine Gurke und Tomaten für den Salat, den sie auf das Kindergarten-Frühlingsfest mitbringen wollte. Ein Glück, dass Tom heute daheim geblieben war und auf die Kleine aufpasste. Was sie da nur für einen tollen Mann geheiratet hatte, der für die Familie vorerst auf seine Karriere verzichtete. Am besten sie nahm ihm gleich noch ein Sixpack Energy-Drinks mit. Zurzeit rissen ihn die Kinder fast jede Nacht aus dem Schlaf. Sie war schon fast an der Kasse, als Niklas sie wieder einholte und mit Rehaugen eine Packung Milchschnitten in den Wagen legte. Sie konnte ihm einfach nichts abschlagen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Warum Kassenbon-Geschichten?

Das Kassenzettel-Spiel ist getragen von der Faszination, dass jeder Mensch die Hauptrolle in einem Leben voller Sorgen, Freuden, Wünschen und Gewohnheiten spielt. Diese Menschen tauchen in unserem eigenen Alltag nur als Statisten auf. Sie sitzen uns in der Tram gegenüber oder stehen an der Supermarktkasse vor uns an. Die meisten dieser Personen werden wir nie kennen lernen, aber allein, über ihr Handeln und ihre Beweggründe zu spekulieren, ist unbeschreiblich spannend.

 

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