Müller will über “Stress” reden

Text: Michael Müller - Illustration: Isabell Beck
Text: Michael Müller – Illustration: Isabell Beck

Mit dem neuen Semester sind nicht nur viele Studenten auf den Campus, in die Straßenbahnen und die Innenstadt Augsburgs zurückgekehrt. In ihrem Rücken hat sich, quasi wie ein treuer Schatten, noch etwas anderes eingeschlichen – der Stress. Praktisch über Nacht hat die Hektik das Zepter in die Hand genommen. Kurzum, wir sind alle mehr oder weniger im Stress und das nahezu pausenlos. Aber muss das sein?

Ursprünglich kommt das Wort Stress aus dem Englischen und bedeutet so viel wie Belastung. Aber inzwischen haben wir es in all seiner unangenehmen Bedeutung eingedeutscht. Allerorten gibt es junge Menschen zu sehen, die einen Kaffeebecher in der Hand und das Handy unters Ohr geklemmt von A nach B hetzen. Der Tenor der meisten dieser Gespräche zwischen Tür und Angel: „Viel zu viel zu tun!“ Auch wenn er mir selbst vor allem im Unialltag begegnet, ist Stress aber kein Jugendphänomen. Wir kennen ihn zudem aus dem Berufsalltag und inzwischen sogar aus dem Fernsehen. Dort wurde der Burnout erst zur Volkskrankheit erklärt und seither zum Anlass genommen, Gesundheitsratgeber mit dem Schwerpunkt Stressabbau auszustrahlen. Das Buch dazu gibt es dann im Fachhandel. Stress als Verkaufsschlager.

Im Alltag erfahren wir Stress meistens als das Gefühl, zu wenig Zeit übrig zu haben. Wir nehmen ihn als äußeren Druck wahr, der unsere Freiheit beschneidet, selbst zu entscheiden wann wir was machen wollen. Der Chef will, dass wir kurz vor Feierabend noch etwas erledigen. Der Dozent hat die Frist für die Hausarbeit wieder knapp bemessen. Und mit dem Studium sollten wir am besten alle mit 21 durch sein, inklusive Auslandsjahr und Zusatzqualifikationen. Was bleibt, ist ein riesiger Berg an Aufgaben, die alle am besten gestern schon erledigt worden wären. Wir fühlen uns vom eigenen Leben abgehängt.

Sicher, Vorbilder in der Bewältigung des stressigen Lebens gibt es genug. Immer wieder lese ich von jungen Aufsteigern, die in meinem Alter bereits zwei Studiengänge abgeschlossen und gerade ein erfolgreiches Start-up gegründet haben. Wir sind richtig stolz auf unseren Stress. Vor hundert Jahren waren die Chefs noch froh, harte Arbeit delegieren zu dürfen. Heute kriegen sie gar nicht genug davon. Eine Familie daheim, eine verantwortungsvolle Position im Unternehmen und ein körperlich forderndes Hobby. Ein Klischee? Vielleicht, aber ein wenig Wahrheit steckt dahinter. So ungern wir es auch zugeben, wir gewinnen dem Stress durchaus etwas ab. Er dient uns nämlich als Beleg, viel zu tun zu haben. Das kann sehr befriedigend sein, denn so haben wir das Gefühl, an uns und unserem Werdegang zu arbeiten. Außerdem muss jemand, dem so viel anvertraut wird, doch wichtig oder zumindest fähig sein. Es wirkt manchmal fast wie ein Wettbewerb, wenn sich zwei Kommilitonen auf dem Gang die lange Liste ihrer Pflichten vorbeten. Glücklich klingen sie dabei meistens trotzdem nicht.

Der Grund dafür wirkt jetzt fast ironisch: Der Stress selbst ist ihnen zu viel. Es geht hier gar nicht um die Tätigkeiten an sich, sondern um das lähmende Gefühl, unmöglich viel zu tun zu haben. In meiner Erfahrung hat diese Ohnmacht etwas mit Knappheit zu tun. Ein Beispiel: Gute Jobs sind knapp. Sowohl solche die Spaß machen als auch solche, die Geld einbringen. Wenn man beides sucht, natürlich erst recht! Logischerweise sind diese knappen Jobs auch begehrt. Also sollten wir zusehen, uns von der Konkurrenz abzusetzen. Dazu braucht es beste Noten, jahrelange Praxiserfahrung, einen ebenso langen Aufenthalt im Ausland und ein ganzes Arsenal an Softskills. Das klingt nicht nur übertrieben, das ist es auch. Denn in Wahrheit qualifiziere ich mich so für einen Job, den es gar nicht gibt – den des Alleskönners. Sicherlich kann es nicht schaden, in allen genannten Bereichen aktiv zu sein. Trotzdem muss man kein mathematisches Genie sein, um zu verstehen, dass ich dann nicht überall 100 Prozent geben kann.

Ein Trick, um Druck und Stress zu entgehen, liegt deshalb im Setzen von Schwerpunkten. Jobs haben bestimmte Anforderungsprofile. Nach denen entscheidet ein Personalleiter dann, ob er einen Bewerber einstellt oder nicht. Diese können sehr spezifisch sein. Deshalb setzt sich wahrscheinlich ein Kandidat durch, dessen Fähigkeitenprofil genauso spezifisch ist. Wenn es meinem späteren Chef wichtig ist, dass ich im größeren Rahmen praktische Erfahrungen gesammelt habe, wird er vielleicht kleinere Abstriche bei den Studiennoten hinnehmen. Einfach deshalb, weil er weiß, dass beides seine Zeit kostet. Sollte er tatsächlich beides verlangen, wird es ihn kaum wundern, dass ich nicht mit 20 abgeschlossen habe.

Aus dieser Erkenntnis lassen sich zwei ganz einfache Mittel folgern, den Stress in seine Grenzen zu verweisen. Zum einen müssen wir nur an dem arbeiten, was wir wirklich erreichen wollen. Ist es eine Unikarriere, sind es die Noten. Ist es ein Job bei einer Unternehmensberatung, wohl die Praxis. Bei einer Musikerkarriere eben die Bandproben. Natürlich sollten wir dabei keine einseitigen Fachidioten werden, aber Schwerpunktsetzung ist völlig in Ordnung. Danach reicht es vollkommen aus, die Aufgaben auf unserer Liste der Reihe nach abzuarbeiten. Niemand wird verlangen, dass wir alles gleichzeitig machen. Einfach schon, weil das gar nicht geht. Ach ja, wichtig bleiben wir dabei sicher auch, denn gelegentlich wird es bestimmt trotzdem noch stressig genug.

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