Hühnerfüße und Tee

Gesammelte Erfahrungen aus einem Semester China

Große Mauer bei Peking
Text und Fotos: Linda Giering

 

China ist etwa doppelt so groß wie Europa und nicht nur deshalb ein Land der Extreme. Es steht zwischen Tradition und Innovation, Dauer und Wandel, Kommunismus und Kapitalismus, Starbucks und Streetfood, zwischen Entwicklung und Industrie. Selbst Shanghai und seine Umgebung zeigten mir schon einige dieser Gegensätze und sorgten bei einer „Lang-Nase“ wie mir regelmäßig für Gefühle von Irrsinn bis Ekstase.

 

Ich versuche mich durch die Menschenmassen zu bewegen und entgehe um Haaresbreite dem Schleim, den eine Frau gerade lautstark aus ihrem Rachen und Mund spuckt. Am Straßenrand erleichtern sich Kinder vom Druck auf ihre Blase oder ihren Darm, indem sie sich ungeniert hinhocken. Als ich vorbeikomme, schreien einige Bauarbeiter „Ausländer“ und deuten auf mich. Mich passieren diverse Leute, die, mit plastikbehandschuhten Fingern, an einem Hühnerfuß knabbern und einen Teebecher mit Blumen, Ingwer und anderem Undefinierbaren in der anderen Hand halten. Der Geräuschpegel ist so hoch, dass ich es gar nicht erst mit Musikhören versuche- denn mein iPod kommt dagegen auch mit voller Kraft nicht an.

Zeitsprung.

Ich schlendere am Ufer eines malerischen Sees entlang. Drumherum sind Berge, auf denen die Teeplantagen in der Abendsonne gut zu erahnen sind. Seit Wochen höre ich das erste Mal wieder bewusst einen Vogel zwitschern. Auf meinem Weg komme ich an tanzenden Chinesen älteren Datums, einem Erhu-Spieler und mehreren Wasserkalligrafen vorbei. Die in sich ruhende Konzentration, mit der der Künstler seine Pinselstriche setzt, färbt sofort auf mich ab. Dieser Moment, zwischen den gelben Blättern eines riesigen Ginko-Baumes und den feuerroten eines Federahorns, gehört wirklich in ein Marmeladenglas.

Hangzhou Westsee
Der Westsee in Hangzhou, einer der malerischsten Orte Chinas

 

Learning by Living

In meinem knapp sechsmonatigen Praktikum im Hamburg Liaison Office Shanghai habe ich gelernt, sich nicht auf den deutschen Höflichkeitsstandard zu verlassen, in der hoffnungslos überfüllten U-Bahn auch mal ein paar Stationen mit in der Tür eingeklemmten Haaren zu fahren und auch in nervenaufreibenden Situationen nicht meinen Optimismus zu verlieren. Seien es die Erfahrung mit der Willkür chinesischer Bürokratie beim Versuch mein Visum zu verlängern, illegales Musizieren auf der Straße mit christlicher Musik oder der zweifelhafte kulinarische Genuss von Hühnerfüßen, Qualle und Ochsenfrosch: Das Reich der Mitte hat einige Überraschungen für mich bereit gehalten. Das Land hat mich aber gleichzeitig mit freundlichen Menschen, wunderbarem Tee und Natur, wie man sie sich schöner und atemberaubender kaum vorstellen kann, in seinen Bann gezogen.

1001 Tätigkeiten

Auch das Praktikum im Bereich der internationalen Zusammenarbeit und Öffentlichkeitsarbeit hätte abwechslungsreicher kaum sein können: Powerpoint Präsentationen zu aktuellen Hafenzahlen erstellen. Alumnigruppen über das Gelände vor dem Büro führen. Eine Hamburger Fischmarktverkäuferin spielen und dabei echte Meeresfrüchte, aber auch deutsches Spielzeug verkaufen. Als Fotografin bei Pressekonferenzen arbeiten, als Journalistin bei Roundtables dabei sein, beim Aufbau eines Bildungspools helfen und auf dem Hamburger Weihnachtsmarkt in Shanghai italienisches Tiramisu verkaufen – das ist nur eine Auswahl der Highlights meiner Zeit als Praktikantin in China. Das Büro (übrigens im ersten zertifizierten Passivhaus Chinas) mit seinem kleinen Team von acht Leuten ist der Dreh- und Angelpunkt für sämtliche Kontakte meiner Heimatstadt Hamburg mit ihrer Partnerstadt Shanghai und dem restlichen China. Für Liebhaber von Interkulturalität eine absolut spannende Mischung.

Hamburger Weihnachtsmarkt Shanghai
Auf dem Hamburger Weihnachtsmarkt in Shanghai kommt deutsche Weihnachtsstimmung auf

 

Land und Leute

Der Unterschied der 24-Millionen-Metropole und dem vergleichsweise überschaubaren und beschaulichen Augsburg ist gewaltig: Man braucht gefühlte Ewigkeiten, um hier eine ruhige Ecke oder ein Gebäude, das kein Hochhaus ist, zu finden. Das ist für ein halbes Jahr wirklich aufregend, doch danach sehnt man sich auch wieder nach Natur und guter Luft, nach Ruhe und ein wenig Beschaulichkeit. Die kann man aber durchaus auch in China finden, nur vielleicht nicht in Shanghai. Auf verschiedenen Kurztrips und Reisen konnte ich auch ganz andere Seiten des Landes kennenlernen. So verbrachte ich zum Beispiel das chinesische Neujahrsfest auf dem Dorf in Südchina in einer sehr traditionellen chinesischen Familie. Dort hatten die meisten Menschen kaum jemals einen Europäer gesehen und waren dementsprechend fasziniert von mir. Erleben konnte ich die Vielfalt Chinas auch in Beijing, der ebenfalls großen und kulturträchtigen Hauptstadt der Volksrepublik, in Xi’an mit seiner Terrakotta-Armee und dem wuseligen Viertel oder in Guilin, mit seinen Karstbergen, bei deren Anblick man seinen Augen kaum traut.

Dorf in Südchina
Dorf in Südchina
Peking Himmelstempel
Der Himmelstempel in Beijing
Karstberge in Guilin
Die Karstberge in Guilin bieten eine wunderschöne Kulisse
Nachtmarkt in Xi'an (1)
Der Nachtmarkt in Xi’An lädt zu einem Bummel ein

 

Langsam nähert sich das Eichhörnchen

Zwar musste ich feststellen, dass Chinesisch-Kurse in Deutschland sprachlich keinesfalls auf einen Aufenthalt in China vorbereiten, aber wenn der erste Fahrkartenkauf, die erste kurze Unterhaltung im Teeladen oder eine Bestellung im Restaurant geglückt sind, sieht man gern über die eigene Unfähigkeit für ausführliche Konversationen hinweg und ist einfach nur glücklich, den Alltag meistern zu können.

Ein halbes Jahr in China hat mir ungewohnt extrovertierte Seiten an mir selbst gezeigt, Reisehunger und Fernweh gemacht und mir einige wertvolle neue Bekanntschaften verschafft. Es hat mir gezeigt, dass die Parole „gib niemals auf“ wirklich funktioniert, dass Mimik und Gestik fast universalsprachlich sind und dass Westeuropa nicht der Nabel der Welt ist. Vermutlich werde ich noch viele, viele weitere Erfahrungssouvenirs entdecken, wenn ich erst einmal wieder in Deutschland bin. Ich kann kaum glauben, dass eine Reise ins Land der Mitte mich derart bereichert hat!

Hongkong
Hongkong: gutes Wetter und viel Wasser!
Shanghai Skyline
Skyline von Shanghai

 

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