Müller will über „Vorgestern“ reden

Müller Vorgestern
Text: Michael Müller – Illustration: Isabell Beck

Der Blick zurück ist ein heikles Unterfangen. Wer über die Vergangenheit reden will, hat oft nicht viel mehr zu bieten als lose Anekdoten im Plauderton. Oder schlimmer noch, er bricht in endloses Jammern um der guten alten Zeiten willen aus. Trotzdem erschließt sich die Gegenwart manchmal erst so richtig, wenn wir darüber nachdenken, was ihr eigentlich vorangegangen ist. Deshalb reden wir doch einmal über unsere Vorfahren, die Studierenden von einst

Das Studium ist die schönste Zeit des Lebens. Dieses Versprechen klingt bekannt. Es gehört zu den beliebtesten Floskeln, wenn es einen Schulabschluss zu feiern gilt. In der Tat ist es nicht einfach, einen Akademiker zu finden, der sich nur ungern ans Studium erinnert. Generell hat das Studentenleben einen ähnlichen Ruf wie die Rente. Es gilt als eine Phase vieler Freiheiten und weniger Verpflichtungen. Zusammengehalten von einer Prise Nostalgie malen unzählige Anekdoten das Bild einer unbeschwerten akademischen Jugend.

Schon in den unteren Semestern durfte ich feststellen, dass die Realität nicht ganz so aussieht. Die Universität hat nämlich durchaus Pläne mit uns Lernenden. Je nach Fachrichtung legt sie mehr oder weniger detailliert nahe, in welchem Semester man welches Modul oder sogar welche Veranstaltung besuchen sollte. Das ist zwar nicht verpflichtend, aber oft der einfachste Weg zur Regelstudienzeit. Zudem gilt es immer wieder, bewertete Teilleistungen für einzelne Seminare einzureichen. Seminarnoten gehen dann wiederum in die Abschlussnote ein. So entsteht eine Straffe Struktur aus 30 Leistungspunkten pro Semester, die jeweils 30 Arbeitsstunden wert sein sollen.

900 Stunden Arbeit in einem halben Jahr sollen die große Freiheit sein? Da muss das Studium früher aber deutlich einfacher gewesen sein! Nicht unbedingt, denn Hausarbeiten und Abschlussleistungen gab es auch damals schon. Sicherlich war der Weg zum Unidiplom damals teilweise weniger kleinschrittig. Studiengänge wie Jura, die nicht vollständig von der Bologna-Reform betroffen sind, geben einen Eindruck davon. Das muss aber kein Vorteil sein, denn dann hängt die Abschlussnote nämlich allein von wenigen Prüfungen ab. Hinter denen steckte zudem auch entsprechend mehr Arbeit. Das Mehr an Freiheit war also mit einem größeren Risiko erkauft. Dass früher Abschlüsse fürs süße Nichtstun verschenkt wurden, ist also eher eine Legende.

Die Wahlfreiheiten des Studenten sind durch all die Pläne und Vorgaben allerdings wirklich etwas kleiner geworden. Kritiker sprechen dabei von einer Verschulung. Gerade auf der Leitungsebene von Universitäten heißt es oft, dass vorgegebene Studienverläufe nicht gerade für eine akademische Laufbahn qualifizierten. Die Studierenden hätten zu wenig Möglichkeiten, sich an eigenen Forschungsinteressen zu orientieren und erlernten keine Selbstständigkeit. Beides sind klassische Elemente der Ausbildung zum Wissenschaftler. So weit, so einsichtig. Doch ist das wirklich ein Fehler?

Kolumne: Müller will reden

Meinung ist tot? Nicht mit uns, denn unser Chefredakteur Michael Müller ist überzeugt, dass es Dinge gibt, die man nicht wissen kann, aber über die es sich zu reden lohnt. In Zeiten harter Fakten glaubt er an das lose Mundwerk, denn wohin sonst mit all den gesammelten Informationen? Mal geht es um Wichtiges, mal um den Rest, aber immer gilt: Keine Angst, Müller will nur reden. Die Kolumne erscheint immer donnerstags und wird von Isabell Beck illustriert. Alle Folgen von “Müller will reden” zum Nachlesen.

Von Akademikern und der Praxis

Meinen Bachelor erreiche ich so bei sechs Semestern Regelstudienzeit. Für ein Diplom hätte ich bei mehr Freiheiten in der Regel länger gebraucht. Allerdings sind die beiden Abschlüsse auch nicht direkt vergleichbar. Wer die Reputation des alten Diploms sucht, sollte besser einen Master machen. Der trägt dann auch an vielen Universitäten ein wissenschaftlicheres Gewand. Der Bachelor stellt also vor allem eine schnellere Möglichkeit dar, die Uni früher mit einem offiziellen Zeugnis zu verlassen. Doch wohin dann? Die Antwort Bolognas lautet: in die Wirtschaft. Eines der wesentlichen Ziele der Studienreform von 1999 lag darin, den Studierenden einen leichteren Einstieg in eine Karriere jenseits der Universitäten zu ermöglichen. Dazu gehört es aber auch, zumindest den eigens dafür eingeführten Bachelor näher an die Anforderungen der Unternehmenswelt heranzuführen. Als Angestellter in der freien Wirtschaft setze ich mir meine Ziele häufig nicht selbst, sondern erhalte sie von meinem Arbeitgeber. Nicht selten inklusive der bevorzugten Strategie zur Umsetzung. Auch Eigenmotivation wird nicht so ausgeprägt verlangt wie in der Forschung. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass strukturiertes Arbeiten nach äußeren Vorgaben und unter Zeitdruck auch an der Uni angekommen ist.

Ein Preis der schnellen Bildung?

Ein zweiter Grund für die engeren Vorgaben könnten die aktuellen Studierenden selbst sein. Eigene Ziele und selbständiges Arbeiten setzen einen gewissen Grad an Lebenserfahrung voraus. Um zu wissen, was ich will, muss ich mir jedoch erst die Zeit nehmen, mich selbst kennenzulernen. Mit Blick auf mein eigenes Umfeld ändern im Studienalter wenige Jahre dabei eine ganze Menge. Studienanfänger sind selbst seit meinem Studienbeginn nochmals jünger geworden. Durch G8 und das Aussetzen der Wehrplicht ist es möglich, bereits vor Erreichen der Volljährigkeit an einer Universität eingeschrieben zu sein. Viele erinnern sich an die quälenden Fragen nach den weiteren Plänen kurz vor dem Abitur. Das Bohren der Verwandtschaft war deshalb so unangenehm, weil wir noch nicht wussten, was wir mit unserem Leben anfangen wollten. Vielleicht trägt die zunehmende Verschulung auch dem Gedanken Rechnung, die jüngsten Studierenden deshalb besser bei der Hand zu nehmen. Zieht sich dieses Prinzip bis zum Abschluss durch, ist es trotzdem nicht ganz ungefährlich. Denn zumindest erlernen wir auf diesem Wege auch keine Selbstständigkeit.

Ist das Studium deshalb keine schöne Zeit mehr? Nein, denn wenn wir ehrlich sind, standen die meisten der gelobten Freiheiten ohnehin nie auf einem Seminarplan. Das Studium ist und bleibt der erste Schritt in ein eigenes Leben. Wir ziehen bei den Eltern aus, lernen neue Freunde und Partner kennen und finden erste Jobs. Dabei fühlen wir uns frei, weil wir über all diese Dinge selbst entscheiden. Das hat mit unserem Studium erst einmal gar nicht so viel zu tun. Den Mut zum Absprung müssen wir ohnehin selbst fassen. Vielleicht ist es dabei so, dass wir heute an der Uni weniger dieser Erfahrungen mit der Selbständigkeit machen als die Studierenden von anno dazumal. Aber ob das nun gut oder schlecht ist, darüber wird ein andermal zu reden sein.

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