Müller will über „den Glauben“ reden

Text: Michael Müller - Illustration: Isabell Beck
Text: Michael Müller – Illustration: Isabell Beck

Der IS versteckt sich zur Begründung seiner Verbrechen lautstark hinter einem radikalen Irrglauben, der in Deutschland immer wieder zu Debatten über die Freiheit des Glaubens führt. Warum wir jedoch gerade jetzt auf einen aufgeklärten Glauben angewiesen sind und der Wahnsinn des Terror rein gar nichts damit zu tun hat? Müller will darüber reden.

Manche Taten werfen Fragen auf, zu denen es keine Antwort gibt. Die sinnlose und menschenverachtende Gewalt, welche am 13. November die französische Hauptstadt Paris erschüttert hat, zählt zweifellos dazu. Sie setzt eine Reihe von Terroranschlägen fort, die sich seit dem Jahr 2001 immer wieder gegen Ziele richtet, die als Symbole für unsere freie und tolerante Kultur stehen. Angesichts dieser Verbrechen bleibt uns nur die Trauer um die Opfer und das tiefe Mitgefühl mit allen Angehörigen und der französischen Gesellschaft. Die Frage nach einem „warum“ bleibt offen, wobei vor allem die Täter jede Antwort schuldig bleiben. Sie verstecken sich hinter einem pervertierten Irrglauben und versuchen, einer Weltreligion und Millionen Gläubigen eine Schuld aufzulasten, mit der diese rein gar nichts zu tun haben. Dennoch werden vereinzelt Stimmen laut, die eine Einschränkung der Religionsfreiheit fordern. Häufig liegt dahinter die Angst vor dem Fremden, verbunden mit einer Skepsis gegenüber der scheinbaren Irrationalität eines jeden Glaubens. Wer so argumentiert vergisst jedoch , dass er mit Sicherheit auch selbst glaubt.

Unlogisch heißt nicht immer irrational

Wer Gläubige nur in der Kirche vermutet, denkt nämlich zu kurz. Der Glaube eines Menschen umfasst alles, was er für wahr oder richtig hält, ohne es beweisen zu können. Spiritualität gehört sicher dazu, doch es gibt auch weltliche Glaubenssätze. Ideale, Philosophien, Welt- und Menschenbilder sind nur einige Beispiele, die vor allem eines gemein haben: ihre Grundannahme ist nicht logisch begründbar. Deshalb müssen sie aber noch lange nicht irrational sein. Ein gutes Beispiel dafür ist die Suche nach unserem Traumjob. Oft können wir erst dann sicher sagen, dass eine bestimmte Tätigkeit zu uns passt, wenn wir sie eine Zeit lang ausgeübt haben. Vor diesem Punkt sind unsere Berufswünsche, exakt, reine Glaubenssache. Problematisch wird das jedoch erst dann, wenn wir anders lautende Beweise ignorieren. Machen wir also in einem Praktikum die Erfahrung, dass nicht alle Jobs in einer Branche zu uns passen, sollten wir unseren Berufswunsch angleichen. Selbst dieser aufgeklärte Glaube kommt am Anfang oft dem Raten gleich, erfüllt aber eine ganz wichtige Funktion: Er gibt uns angesichts einer ungewissen Zukunft den nötigen Halt, Perspektiven zu entwickeln und Entscheidungen zu treffen. Das gilt für große moralische Fragen ebenso wie für einfache Alltagsprobleme. Glaube schafft unsere ganz persönlichen Gewissheiten in einer komplexen und schnelllebigen Welt – und sei es nur, dass schon irgendwie alles gut gehen wird.

Kolumne: Müller will reden

Meinung ist tot? Nicht mit uns, denn unser ehemaliger Chefredakteur Michael Müller ist überzeugt, dass es Dinge gibt, die man nicht wissen kann, aber über die es sich zu reden lohnt. In Zeiten harter Fakten glaubt er an das lose Mundwerk, denn wohin sonst mit all den gesammelten Informationen? Mal geht es um Wichtiges, mal um den Rest, aber immer gilt: Keine Angst, Müller will nur reden. Die Kolumne erscheint immer donnerstags und wird von Isabell Beck illustriert. Alle Folgen von “Müller will reden” zum Nachlesen.

Aus einem ganz ähnlichen Grund sind auch moderne Gesellschaften in vielerlei Hinsicht Glaubensgemeinschaften. Die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben setzt voraus, dass wir uns auf gewisse Werte verlassen. Dabei sind Ideale wie die Demokratie, das Gewaltmonopol des Staates oder Toleranz nichts anderes als weltliche Glaubensinhalte. Ein großer Teil unseres Freiheitsgefühls beruht darauf, dass wir uns in Deutschland darauf verlassen, diese Werte mit den meisten anderen zu teilen. Vor allem die Toleranz  der anderen ist eine wichtige Voraussetzung, um wiederum den persönlichen Glauben auszuleben. Denn sie bedeutet, zuzulassen, dass andere auch anders glauben. Das bedeutet allerdings noch lange nicht, alles dulden zu müssen. Vielmehr setzt Toleranz in diesem Sinne voraus, sich aktiv mit dem Glauben des anderen auseinanderzusetzen. Gerade dann, wenn sich jedoch zeigt, dass die Vorstellungen anderer an Unverhandelbarem wie der Würde des Menschen oder dem Schutz des Lebens rühren, sind wir sogar verpflichtet, einzuschreiten. Wer dem Terror tatenlos zusieht, macht sich nämlich so seiner Intoleranz mitschuldig.

Nur irrationaler Glaube ist gefährlich

Hier zeigt sich eine schleichende, aber große Gefahr, die vom Terrorismus ausgeht. Durch ihre Verbrechen versuchen die Täter, ihren Opfern eine Logik der Radikalität aufzuzwingen. Deshalb dürfen wir uns nicht dazu verleiten lassen, ihnen ebenfalls mit Ignoranz und Fundamentalismus zu begegnen. Wir haben das Recht und die Pflicht im Rahmen eines Rechtsstaates, die Freiheit und die Demokratie gegen barbarische Angriffe zu verteidigen. Dabei verpflichtet uns der Glaube an die Toleranz allerdings auch zu einem differenzierten Blick. Wer sich jetzt pauschal gegen jene Flüchtlinge wendet, die vor eben dem Terror geflohen sind, der hinter den Anschlägen von Paris steckt, spielt den Tätern in die Hände. Wir müssen einem künstlichen Krieg der Kulturen, den der IS propagiert, eine anspruchsvolle Balance entgegensetzen. Ein Generalverdacht ist genauso inakzeptabel wie Nachlässigkeit gegenüber echtem Radikalismus. Das mächtigste Zeichen, dass jeder Einzelne von uns setzen kann, ist das schlichte Weitermachen. So schwer es zunächst fallen mag, zeugt gerade das selbstverständliche Festhalten an unseren Überzeugungen und der Verzicht auf jede Kampfrethorik davon, dass der Terror uns nicht einschüchtert. In diesem Sinne haben die ersten Pariser nach einem Moment der Stille schon wenige Tage nach dem Attentat das öffentliche Leben wieder aufgenommen. Es ist dieser unbändige Glaube hinter Idealen, die Frankreich, Deutschland und weite Teile Europas teilen, der einen Satz dieser Tage auch zu meiner Wahrheit macht: Nous sommes unis!

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