Von der Frage nach der Schuld

Besuch  der Theateraufführung Bahnwärter Thiel im City Club, 15.05.2016

Die novellistische Studie Bahnwärter Thiel von Gerhart Hauptmann zählt zu den bedeutsamsten Werken des Naturalismus. Am 15. Mai 2016 brachte im Augsburger City Club eine junge Schauspieltruppe eine moderne Version des Klassikers in einer Inszenierung von Leif Eric Young auf die Bühne – wir waren für euch vor Ort und haben uns das ambitionierte Stück angeschaut.

Theter I
Fotos: Franziska Gumpp, Ines Flögel

Thiel ist ein gewissenhafter und frommer Mann. Seit 10 Jahren verfolgt er zuverlässig den routinemäßigen Alltag eines einfachen Bahnwärters. Nachdem seine geliebte Frau Minna stirbt bleibt ihm nur noch sein Sohn Tobias, um den er sich aufopferungsvoll kümmert. Wenig später geht er erneut eine Ehe ein mit der Magd Lene, mit der er ein zweites Kind bekommt. Eine Abhängigkeit entsteht – Thiel fühlt sich seiner stämmigen Ehefrau physisch und psychisch unterworfen. Er ist sich bewusst, dass Lene seinen ersten Sohn keinerlei Beachtung schenkt und misshandelt, doch trotzdem greift er nicht ein. Seine Gewissensbisse quälen ihn während seiner Arbeit und führen dazu, dass er sich in Visionen flüchtet in der er seine angebetete Minna wiederaufleben lässt. Je mehr Lene beginnt, das Leben Thiels zu dominieren, desto weiter fühlt er sich seiner Position als sorgender Vater entzogen. Als schließlich Tobias unter der Aufsicht Lenes durch ein tragisches Zugunglück umkommt, gipfelt die zunehmende Entfremdung Thiels gegenüber seinem alltäglichen Leben in einer Katastrophe.

Theter II
Fotos: Franziska Gumpp, Ines Flögel

Eine schwebende Konstruktion

Am 15. Mai 2016, einem regnerischen Sonntag, führte das Ensemble „Theter“ die Geschichte des Bahnwärters Thiel im City Club Augsburg auf. Nur nahezu 40 Schaulustige passen in die sonst auf Techno spezialisierte Diskothek. Die Darstellergruppe ist eine wilde Mischung aus Studenten, Arbeitenden und Auszubildenden, die aber eines verbindet – die glühende Liebe zur Schauspielerei. Auch Leif Eric Youngs abstrakte und detailreiche Inszenierung legt den Schwerpunkt auf die Leidenschaft des Ensembles für die Bühne. Schon das erste Bühnenbild sorgt für Verblüffung, denn nach dem Fallen des Vorhangs ist nichts als eine weiße, stark beleuchtete Leinwand zu sehen. An den Ecken jedoch sind jeweils kreisrunde Löcher hineingeschnitten worden, durch welche die Köpfe der Schauspieler ragen. In der noch beschatteten Mitte steht ein oberkörperfreier Thiel, dessen Beine noch durch die Leinwand bedeckt sind.

Nach einer einführenden gesanglichen Einlage spielt die erste Viertelstunde  mit dem Wechsel zwischen den vier Eckpunkten der Leinwand. Die Köpfe der Zuschauer drehen sich von rechts nach links, von oben nach unten, um den leichtfüßigen Versen und chanson-artigen Gesängen des Ensembles zu folgen, dass allein über ausdrucksstarke Mimik und Stimme das Stück zum Leben erweckt. Als die Leinwand heruntergerissen wird ist die Überraschung dann jedoch groß: Die Akteure waren die ganze Zeit über mit Hilfe von einer selbstkonstruierten beigen Hängematte an einem großen Gerüst befestigt, die auch weiterhin praktisch schwebend ihre Rollen spielen. Am Boden zu den Füßen Thiels ist nun auch Tobias zu sehen. Im Hintergrund stehen zudem eine begabte Sängerin (wohlgemerkt Lene) und ein äußerst talentierter Schlagzeuger. Beide scheinen gleich Thiel den starren Blick in eine endlose Leere richten.

Theter III
Fotos: Franziska Gumpp, Ines Flögel

Gestalten in Malerkitteln und ein halbnackter Wahnsinniger

Die kraftvollen Schläge des Schlagzeugers und die sanfte Stimme der rothaarigen Lene verleihen der mittlerweile rotbeleuchteten Bühne eine bedrückende, aber emotionsvolle Aura. Diese eindrucksvolle Akustik, die unter anderem die Visionen Thiels untermalt, erfüllt den kleinen, dunklen Raum des Clubs vollständig. Die Leinwand wird mit roter Farbe beschmiert, wenn Thiel Wut, Angst und Verwirrung empfindet, und mit einem trüben, grauen Farbton bestrichen, wenn seine Betäubung oder das Erdulden von Lenes Schikanen und dem Tod seiner Minna dargestellt wird.

Um die ansonsten eher buchgetreue Vortragsweise aufzulockern, kommt eine weitere, ebenfalls in einem Maleranzug gekleidete Figur ins Spiel. Die bewusst moderne und ironische Ausdrucksweise des glatzköpfigen Mannes mit Flexbrille durchbricht die komplizierten und zum Teil schwer interpretierbaren Verse des Originalwerks, was das Publikum mit Lachen belohnt. Auch diese Figur ist es, die Tobias im Moment des Todes an der Hand nimmt und langsam aus dem Raum führt, um dessen Ende weniger makaber zu porträtieren. Daraufhin folgt ihm der mittlerweile manisch gewordene Thiel. Die Lichter erlöschen, die Musik verstummt. Mit ohrenbetäubendem Beifall und trampelnden Beinen wird das Theter Ensemble verabschiedet. Um die gelungene Inszenierung zu feiern, besteht anschließend die Möglichkeit, mit den Schauspielern bei einem Getränk ins Gespräch zu kommen. Wer letzten Endes Schuld trägt an Tobias Tod, die böse Lene oder Thiel – der selbst ein Produkt seiner Umwelt ist – bleibt den Zuschauern überlassen und gibt auf dem Nachhause Weg allen Grund zum Nachdenken. Damit gilt auf und auch neben der Bühne: ein Abend, der Grenzen sprengt.

Weitere Aufführungen: 

Bahnwärter Thiel
Sonntag, den 12.06. um 19.00 Uhr
Montag, den 25.07. um 20.30 Uhr
Dienstag, den 26.07. um 20.30 Uhr
Donnerstag, den 28.07. um 20.30 Uhr
Freitag, den 29.07. um 20.30 Uhr

Tschick
Montag, den 13.06. um 20.30 Uhr
Dienstag, den 14.06. um 20.30 Uhr

Gute Witze schlecht erzählt
Donnerstag, den 16.06. um 20.30 Uhr
Donnerstag, den 21.07. um 20.30 Uhr

Ort: City Club, Konrad-Adenauer-Allee 9, Augsburg / Königsplatz

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