Brothers In Norms

Michael Sentef und Christopher Große sagen tschüss zu Europa, aber auf CENG-normkonforme Weise

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Text: Michael Sentef & Christopher Große

Eine EU-Norm (EN 999999) des Europäischen Komitees für Glossennormung (Comitée Européen de Normalisation des Gloses, kurz: CENG*) untersagt neuerdings nichtkonforme Glossen. Nichtkonforme Glossen beginnen beispielsweise mit ungebräuchlichen, etwa altertümlichen Formulierungen wie „Im Anfang war SEIN Wort“, weswegen wir auf diese liebgewonnene Eröffnung diesmal schweren Herzens verzichten müssen, ebenso auf theatralische Regieanweisungen („Unter betretenem Schweigen ab!“) und sprachliche Kauderwelsche („Voilà – die dümmste Glosse ever!“).

Stattdessen schreiben wir, CENG-normkonform:

Der, dessen Name nicht genannt werden darf, trug uns auf, eine Glosse zu schreiben, die das Thema „Europa“ zum Inhalt habe. Wir mögen unverzüglich damit beginnen und der heiklen Sache mit gebührendem Respekt begegnen, auch wenn wir das Thema vermutlich nicht ausstehen können. Schließlich seien auch die Politiker Schäuble und Varoufakis einander stets mit gebührendem Respekt begegnet, auch wenn sie sich vermutlich noch weniger ausstehen konnten. Er, dessen Name noch immer nicht genannt werden darf, fühle sich der europäischen Idee sehr, sehr verpflichtet. Er fühle sich als Europäer durch und durch, dem platonischen, aristotelischen, sokratischen Erbe Altgriechenlands verpflichtet, als Denker vom alten Schlag, auf dessen Größe und Großartigkeit wir subnormen Glossistchen zwar nicht in unserem kühnsten Traum zu hoffen wagen dürften, die wir uns jedoch stets zum Vorbild − zum Ideal − nehmen sollten. Außerdem erhalte er EU-Subventionen und riskiere bei CENG-nichtkonformen Glossen eine saftige Vertragsstrafe. Letztere müssten wir im Falle der CENG-Nichteinhaltung von unserem ebenfalls subnormen Glossisten-Obolus berappen.

Der eine von uns (MS) findet Normen meistens blöd. Es ist nicht so, dass Normen grundsätzlich Unfug sind. DIN-Normen beispielsweise verhindern hässliche Papierstaus in Druckern. Wir haben das neulich mal zuhause ausprobiert: Die zweijährige Tochter des einen von uns hält sich mit ihrer Papierschere an keinerlei DIN-Normen, dennoch musste der eine von uns als guter Daddy unbedingt selbiges nicht genormtes Papier in den Drucker legen und eine Testseite drucken. CENG! Papierstau! Das Leben lehrt uns, dass bestraft wird, wer sich nicht an Normen hält. Und mit Strafe verbinden wir Schuldgefühle. Schuld tut weh. In diesem Fall dem Drucker, der von der Zweijährigen als Schuldiger ausgemacht und mit dem sehr harten Schädel ihrer Lieblingspuppe ordentlich verhauen wurde. Du dummer Drucker!

Doch der eine von uns hat noch ganz andere, geistige Schmerzen erfahren. Die finnische Verwandtschaft der Ehefrau des einen von uns hat einen Bauernhof. Darauf züchten sie Schafe. Gemäß EU-Norm ist Schafen und sonstigen Nutztieren in EU-genormten Wassereimern stets eine EU-genormte Menge an Trinkwasser zur Verfügung zu stellen. Nun leben drei dieser Schafe nicht beim Rest der Herde, sondern auf einem separaten, idyllischen Grundstück an einem Bach. Jener Bach führt enorme Mengen an bestem finnischen Trinkwasser. Selbige Schafe ignorieren geflissentlich die täglich zu wechselnden EU-genormten Wassereimer. Wozu auch – sie können doch allerbestes Wasser direkt aus dem Bach trinken. Doch der EU-Kontrolleur konnte das einfach nicht mit seinen EU-Normen in Einklang bringen. Die EU-Eimer müssen bleiben. CENG!

Ausgabe 29: Europa
Dieser Artikel erschien zuerst in Ausgabe 29 unseres Magazins als E-Paper.

Wenn es so weiter geht, räsoniert der eine von uns bei einer EU-genormten Tasse EU-genormten Espressos, dann nehmen wir die EU und mit ihr ganz Europa bald nur noch als einen großen Wust von Normen wahr. Wo, fragt sich der eine von uns, bleibt bei all den Normen und Regeln das, was Europa als Idee im Kern ausmacht – die Menschlichkeit? Ist es schon an der Zeit, tschüss zu sagen zu dieser Idee? Der eine von uns könnte das kaum ertragen.
Der andere von uns (CG) findet Normen meistens blöd. Trotz grundsätzlicher Sympathien sowohl für Öko als auch für Design, kann er mit Ökodesign-Richtlinien herzlich wenig anfangen. Deshalb zehrt er bis zum heutigen Tage tapfer von seinem überschaubaren Vorrat an Glühlampen der Energieeffizienzklasse E, den er sich in weiser Voraussicht bei Zeiten angelegt hatte (inklusive ebenso vorausschauendem Nachkauf im Vor-EU-Beitritts-Kroatien). Denn nichts, so meint der andere von uns, geht über das heimelig-schummrige warmweiße Licht der guten alten Glühlampe. Das ist seit jeher nicht nur Grundlage der guten alten, zu Recht berüchtigten deutschen Gemütlichkeit, sondern hat den anderen von uns (neben einer gehörigen Menge schottischen Single Malts) auch über die eine oder andere Verstimmung, Sinnkrise bzw. tiefdepressive Phase gerettet. Auch seinen 2.200-Watt-Haartrockner nutzt der andere von uns mit Luft und Liebe – schließlich ist er nicht ohne Grund einer der ersten Absolventen des sogenannten Elitestudiengangs „Ethik der Fönfrisuren“ (Anm.: Bis heute erkennen sich die Absolventen untereinander an einem locker über die rechte Schulter geworfenen Handtuch). Ein zweiter, baugleicher Haartrockner wartet derweil beharrlich im Schrank auf seinen Notfalleinsatz. Neben einem originalverpackten Wassertrockner und einem benzinbetriebenen Rasenmäher übrigens – auch wenn der andere von uns gar keinen Garten sein eigen nennt. Der andere von uns ist nämlich für Wärme, Rasen (Stichwort: „Was der Rasen noch zu bieten hat“) Herz und Liebe an sich. Und von alledem gibt es dieser Tage ohnehin viel zu wenig. Brüssel tut dafür sein übriges, weil … [diese Passage wurde aus Gründen der CENG-Konformität auf Basis der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 386/2014 der Kommission gestrichen], findet der andere und fühlt sich der Revolution plötzlich so nahe wie seit dem warmweißen Deutschen Herbst 77 nicht mehr. Damals wurde im Übrigen auch noch verbleit getankt, verbleit geliebt und verbleit geraucht – und zwar ungefähr überall. Tschüss … äh … hust!

Beim Lesen unserer CENG-normkonformen Glosse bleibt ihm, dessen Name nach wie vor nicht genannt werden darf, beinahe die Spucke weg. Und dann ER so: „CENG! Bah! Wie langweilig, diese Glosse! Wie gewöhnlich! Wie … NORMAL! Ach, ihr Glossistlein, ihr habt mich bei all eurer Unzulänglichkeit doch immer bestens unterhalten! Eure Glossen waren doch immer eigenwillig, doch immer niedlich, irgendwie auch komisch, wenn auch unfreiwillig komisch, aber doch komisch. Wisst ihr was, meine Glossistchen: Scheiß die Wand an! Scheiß auf die CENG-Normen! Scheiß auf die EU-Subventionen! Macht doch einfach wieder euer Ding!“ − Wir [bass erstaunt]: „Aber, oh HErr, sollte es denn möglich sein? Dass wir das noch erleben dürfen, Euch, oh HErr, auf unserer Seite zu wissen, wir sind sprachlos, ohne Worte, wissen gar nicht, was wir sagen …“ − ER [schon wieder ganz HErrisch]: „Schnauze und ab zurück an den Schreibtisch!“ (CENG! Alle unkonform ab.)

*Anmerkung der Glossisten: Das Europäische Komitee für Glossennormung CENG ist trotz seiner Realitätsnähe nur auf unserem Mist gewachsen. Für seine etwaige künftige Gründung auf unsere Idee hin möchten wir uns schon jetzt bei unseren Brüdern und Schwestern Glossisten in ganz Europa entschuldigen und melden zugleich ein Patent am Europäischen Markenamt an.

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