Wenn der Kopf Kaffeepause macht

Wie uns das Abkapseln von der Umwelt die Freiheit kosten kann

Text: Madeleine Londene – Foto: Paul von Platen

Dass wir in einer Zeit leben in der Konsum – zumindest in der westlichen Gesellschaft – groß geschrieben wird ist nichts Neues. Trotzdem ist unsere Welt einem ständigen Wandel unterworfen und vor allem ein Trend fällt dabei besonders auf: Eine gewisse Entfremdung, die auf sämtliche Lebensbereiche übergreift und immer mehr essentielle Werte aus unserem Blickfeld drängt. Gibt es ein Entkommen aus diesem Scheuklappenkonformismus?

Immer mehr Menschen verzichten auf fleischhaltige Kost. So ist laut dem Frankfurter Essethnologen Marin Trenk ist ein genereller Trend zu beobachten, dass sich der Mensch zunehmend vom Tier als Nahrung entfremdet. Parallel dazu möchte ein Großteil der Gesellschaft möglichst billig möglichst viel einkaufen. Auf den ersten Blick ist das ein Widerspruch. Generell gilt: Die Wenigsten machen sich wirklich Gedanken darüber, was genau sie sich gerade in den Mund stecken, egal ob Hacksteak oder Maiskolben. Woher das Essen wirklich kommt, wer dafür sein Leben lassen musste oder was dafür abgeholzt und gerodet wurde, liegt außerhalb des Horizonts. Auf Facebook ist der Aufruhr groß, wenn von einer Tierschutzorganisation ein Video über die Grausamkeiten der Massentierhaltung gezeigt wird. Kommentare wie: „Das wollte ich heute am frühen Morgen wirklich nicht auf meiner Startseite sehen“ oder „Die armen Kälber sind doch noch so jung“ sind keine Seltenheit. Sobald der Bildschirm abgeschaltet ist und die schockierenden Bilder im Nebel der Verdrängung verschwinden, wird oftmals trotzdem mehr oder weniger passiv am Wurstbrot weitergeknabbert.

Soziologische Blickwinkel auf das Beziehungschaos

Unter dem Begriff der Entfremdung setzten sich viele europäische Sozilogen bereits im ausgehenden 19. Und frühen 20. Jahrhundert mit Phänomenen dieser Art auseinander. Für Emile Durkheim lag ihr Ursprung dabei im Verlust gesellschaftlicher und religiöser Traditionen. Der Wegfall solcher starren sozialen Regelungen sorgt zwar dafür, dass wir heute individueller leben können als jemals zuvor. Er bedeutet oft aber auch den Verlust gesellschaftlicher Sicherheit.

Vertreter der Kritischen Theorie, wie Karl Marx und Theodor W. Adorno haben sich aus der Perspektive von Herrschaft und damit verbundenen gesellschaftlichen Mechanismen und Abhängigkeiten der Entfremdung genähert. Beide sehen den Ursprung der Veränderung im menschlichen Streben danach, die Natur zu beherrschen, beispielsweise mithilfe der Wissenschaft. Langfristig verändern der Mensch dabei natürlich die Beziehung zur Arbeit, anderen Menschen und sogar (zu) sich selbst. Mit anderen Worten hat unsere Art, mit unserer Umwelt umzugehen auch Auswirkungen auf uns selbst, oder wie Marx es ausdrückt: „Wer nichts achtet, ächtet sich selbst.“

Auf der anderen Seite spiegelt sich damit auch in so alltäglichem Verhalten wie Essgewohnheiten oder dem Einkaufsverhalten das dahinterstehende innere Wertesystem. Wenn in einer Gesellschaft Konsum und ein unstillbarer Hunger nach neuen Erfahrungen an erster Stelle stehen, bleibt schnell kein Raum mehr für Affekte. Wenn alles rationalisiert und in Kategorien einsortiert wird, kommt es nahezu zwangsläufig zu einem gewissen Gefühl von Einsamkeit, Sinnlosigkeit oder innerer Leere. Der Politologe und Soziologe Herbert Marcuse spricht hier von „eindimensionalen Gesellschaften“, die kein Maß an innerer Freiheit oder eigenständiger Subjektivität mehr kennen. So geht schnell der wahre Bezug zur Natur verloren, die nur noch als unstrukturierter Stoff erscheint, den es krampfhaft zu erfassen gilt.

Vom langen Arm der unsichtbaren Hand

Angesichts solcher Entwicklungen scheint es nicht mehr weit hergeholt, dass eine solche Lebensweise zu psychischen Folgen führt. Wer es – zumindest in westlichen Gesellschaften – gewohnt ist, das Leben auf dem goldenen Tablett serviert zu bekommen, dessen Sinn und Denken können schnell verkümmern. Das Leben des Einzelnen wird immer öfter fremdbestimmt durch ein gesellschaftliches System, das ihm vor allem gibt, wonach er sucht: günstigen, schnellen Konsum ohne großen Aufwand. Wer gedankenverloren zum billigsten Leberkäse greift wird also gleichzeitig zum Täter und zum Opfer in der gesellschaftlichen Maschinerie.

Oftmals scheint es, dass sich nur die Wenigsten trauen hinter die Fassade zu blicken –  sei es nun aus Bequemlichkeit oder aus Unwissenheit. So komplex die Welt auch teilweise erscheinen mag, liegt der Schlüssel in der Erkenntnis, dass der Mensch ebenso selbst lenkt, wie er gesteuert wird. Für Adorno ist die rettende Lösung eine Versöhnung zwischen Mensch und Natur. Nur durch diese transzendente Einsicht sei es möglich, eine Liebe zu den Dingen wieder zu regenerieren und sich mit sich selbst und seiner Umwelt einsichtig und reflektierend auseinander zu setzen. Es geht also nicht darum, über Ernährungsweisen oder Einkaufsverhalten zu urteilen, sondern um bewussteres Handeln. Es kommt vor allem darauf an, sich Gedanken darüber zu machen, wie man lebt und eine Entscheidung zu treffen, ob man diese Lebensweise beibehalten oder ändern mag. Denn ansonsten, wie bereits Focault wusste, „verwindet der Mensch wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.“

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