Ein Gespräch mit Willi Singer, ehemaliger Profi-Radrennfahrer

Text: Gundi Woll – Foto: © Gundi Woll

„Fußball hat mir dann irgendwann nicht mehr gepasst“

Seine Radwerkstatt liegt in einem Innenhof in der Bäckergasse, mitten in der
Augsburger Altstadt. Auf dem Gehweg weist ein gelbes Schild mit roter Aufschrift in
den Innenhof zu „Willis Werkstatt“. Der ganze Hof ist mit Rädern zugeparkt und auch
hinter dem Werkstatttor warten zahlreiche Räder auf ihre Genesung. An einer
Regalwand hängen Sättel verschiedenster Art, daneben in einem Bilderrahmen
Fotos von Willi Singer im Bianchi-Trikot, oben drauf stehen fünf Pokale, in einer
Vitrine sind ein paar Medaillen zu sehen, neben Reifen an der Decke hängt ein
riesiger, goldener Siegerkranz aus dem Jahr 1975 vom Rennen „Rund um
Schwaben“. Noch während seiner Profikarriere baute er den Laden auf. Das war vor
40 Jahren. Heute kann sich die Augsburger Radsportkoryphäe kaum noch retten vor
ratsuchenden und für eine erfahrene Hand dankbaren Radfahrern aus Leidenschaft.
Für den Interview-Termin hat Willi Singer einen Teil der Mittagspause geopfert. Willi
Singer ist eine echte Augsburger Radsportlegende. Die Bodenhaftung hat der
inzwischen 69-Jährige trotzdem nie verloren. Gefragt nach seinen Platzierungen
beim größten Radrennen der Welt und dem von Radsportfans heiß geliebten Giro
d’Italia, meint er nur, bei der Tour sei er 48. geworden. Die zwei Platzierungen beim
Giro habe er jetzt aber nicht im Kopf. Für einen Domestiken sei es aber ohnehin
„wurscht“, ob er 50. oder 150. werde. Das einzige, was zähle, sei die Leistung für die
Mannschaft. Der Augsburger fuhr in den 70er und 80er Jahren als Profi für das
traditionsreiche, italienische Radsportteam Bianchi. 1977 nahm er an der Tour de
France teil, 1976 und ’78 beim Giro d’Italia.
Was ihn zum Radsport brachte und über die deutschen Radsportfans, die einfach
nicht verzeihen können…Willi Singer steht Presstige Rede und Antwort.

Der italienische Journalist und Literat Dino Buzzati hat über die Italienrundfahrt
Giro d’Italia aus dem Jahr 1949 mitreißende Streckenreportagen geschrieben.
Ein Land, das damals vom Zweiten Weltkrieg gezeichnet war und vom hoch
emotionalen und von sportlichem Ehrgeiz getriebenen Kampf zweier ungleicher Nationalhelden. Man fieberte entweder mit dem in sich gekehrten
und äußerst frommen Gino Bartali oder verehrte den jüngeren, dynamischen
Fausto Coppi. War es dieses historische Duell, das Sie für den Radsport
begeisterte?

Als ich damals selber angefangen habe, Rad zu fahren, habe ich von Coppi und
Bartali gar nix gewusst. Als Jugendlicher bin ich auf dem Land aufgewachsen und da
wird halt immer Fußball gespielt. Aber der Mannschaftssport hat mir dann
irgendwann nicht mehr gepasst. Es gab immer einige, die haben nix gemacht und nix
trainiert und am Sonntag ist dann beim Spiel nix vorwärts gegangen. Das hat mir
dann irgendwann mal gestunken. Dann habe ich irgendwann mal bei einem
Radrennen mitgemacht. Das habe ich zufälligerweise gleich gewonnen und so bin
ich in den Verein gekommen. In Memmingen war das damals. Und so ging das alles
los bei mir. Aber ich habe erst relativ spät angefangen, erst mit 18 Jahren. Das ist für
heutige Verhältnisse sowieso alles viel zu spät. Heute fangen sie ja mit acht an oder
mit zehn.

Wie kam’s, dass Sie nach Italien gingen, um dort hauptberuflich Rad zu
fahren?

Es gab ja zu der Zeit, wo ich Profi geworden bin, in Deutschland keinen Rennstall. Es
gab ein paar Jahre zuvor einen und danach wieder. Aber 1976 gab’s keinen
deutschen Rennstall. Ich war als Amateur schon Fahrer bei der Bianchi-Mannschaft
und dann bin ich in Italien auch den „Piccolo Giro di Lombardia“ gefahren (wichtiges
italienisches U-23 Radrennen) und dann war ich paarmal unter den ersten Zehn
platziert und auch in der Gesamtwertung war ich Zehnter. Da sind die Italiener dann
doch ein bisschen aufmerksam geworden und deshalb habe ich dann bei Bianchi
einen Vertrag gekriegt. Das war mit das Größte, was man erreichen kann.

Sie waren als sogenannter „Wasserträger“ für Ihr Team unterwegs. Als Helfer
verzichteten Sie damit auf den eigenen Erfolg und stellten sich ganz in den
Dienst der Mannschaft, spendeten dem Kapitän Windschatten oder holten neue
Wasserflaschen. Auch der britische Radrennfahrer Charly Wegelius war Helfer.
Elf Jahre lang nahm er an den weltweit härtesten und berühmtesten Rennen
teil. Über diese Zeit schrieb er 2013 in seinem Buch: „Ich lernte, im Dienste meiner Kapitäne unglaubliche Schmerzen auf mich zu nehmen und
buchstäblich das Letzte aus mir herauszuholen, aber ich selbst gewann nie
auch nur ein einziges Rennen. Ich war nur ein bezahltes Arbeitstier, ein
Wasserträger, ein Domestik.“ Haben Sie das damals auch so empfunden?

Nein, kann ich jetzt so nicht sagen. Ich mein‘, man hat ja gewusst, wenn man zu den
Profis kommt, da ist das nochmal ein riesiger Klassenunterschied zu den Amateuren
damals. Und ich wusste ja, dass ich da jetzt keine Kapitänsrolle übernehmen kann.
Man muss ja erstmal in die ganze Hierarchie reinkommen und sehen, wie die
Rennen laufen. Also ich habe das auch nie bereut so.

„Bereuen“ das ist ein gutes Stichwort für das nächste große Thema, wenn’s
um Radrennsport geht: Doping – das den Radsport bis in die Gegenwart
verfolgt. Den ersten Doping-Toten im Radrennsport gab’s bereits 1886. Derzeit
sorgt der momentan weltweit beste Radprofi, der Brite Chris Froome, für
Aufsehen. Trotz positiver Probe fuhr er den Giro d’Italia, den er dann auch
gewann, und wird vermutlich auch bei der Tour de France im Juli an den Start
gehen. Was sagt das über das System des internationalen Radrennsports aus?

Erstmal grundsätzlich: Gedopt wird in allen Sportarten. Aber der Radsport ist halt
schon eine brutal schwere Sportart und da ist natürlich die Gefahr da, dass da
mancher zu gewissen Mitteln greift. Und dann geht es auch heute einfach um sehr
viel Geld. Das ist mit ein Grund, warum sich da irgendwelche Leute verführen lassen.
Und das jetzt mit Froome, was da jetzt im Moment läuft, das finde ich auch nicht ok.
Einen anderen hätten sie schon längst rausgenommen und gesperrt. Dass er jetzt
noch weiterfährt, bis irgendwelche Anwälte das alles noch zurechtbiegen können,
das verstehe ich auch nicht.

Insbesondere Ausdauersportarten sind prädestiniert fürs Doping. Bereits in
der Antike nahmen Sportler Mittel zur Leistungssteigerung. Der erste deutsche
Sportler, der nachweislich an Doping starb, war der Boxer Jupp Elze. Das war
1968. Warum wurde dem Doping damals keine so große Bedeutung
beigemessen und heute schaut die ganze Welt auf jeden einzelnen
Dopingverdachtsfall?

In Deutschland ist das schon auffallend. Wenn einer mal gut fährt, wird er
hochgehoben und fährt er mal nicht gut, wird er verdammt. Das ist dann sowieso der
Fall, wenn irgendwas mit Doping auftaucht. Das ist ja auch richtig so. Aber das wird
in Deutschland schon (überlegt lange, ringt nach Worten und atmet hörbar aus) –
weiß jetzt nicht, wie ich’s ausdrücken soll… Es wird also wahnsinnig überall alles
breitgetreten. Die sollen den dann sperren und dann auch in Ruhe lassen. In Italien
und Spanien sind auch zig Rennfahrer erwischt und gesperrt worden. Die waren
dann nach ein oder zwei Jahren wieder da und sind wieder bejubelt worden. Die
Fans haben es denen irgendwie verziehen und bei uns ist das nicht so.

Wäre es nicht am einfachsten, Doping zu legalisieren?

Nö, das finde ich nicht gut. Dann muss es ja nirgendwo mehr Gesetze geben. Da bin
ich sehr dagegen.

Was braucht es, um den Profiradsport für den Nachwuchs wieder attraktiv zu
machen?

Wenn es zumindest von den deutschen Radfahrern keine Dopingfälle mehr gibt,
dann ist es bestimmt so, dass auch die Eltern der Jugendlichen es unterstützen, dass
sie beim Radsport bleiben.

Wie stehen Sie zur viertägigen Deutschland Tour, die nach zehn Jahren Pause
im August ihre 11. Auflage feiert?

Für das deutsche Publikum ist das natürlich toll, dass sie da die ganzen guten oder
(lacht) nicht so guten Radrennfahrer alle wieder mal direkt sehen können. Beim Start
und im Ziel oder unterwegs. Für die Begeisterung und auch für den Nachwuchs finde
ich schon gut, dass es die Deutschlandrundfahrt wieder gibt.

Welche Gedanken und Gefühle schießen Ihnen durch Kopf und Herz, wenn am
7. Juli die dünnen Reifen der grazilen Rennmaschinen auf französischen
Straßen und Sträßchen wieder heiß laufen?

Ich denke dann selber dran, wie das bei meiner Tour-de-France-Teilnahme war
1977. Gerade bei der ersten Etappe. Heute bin ich drüber weg, dass ich dem
nachweinen würde. Das hat sich eben so ergeben, dass die Karriere dann zu Ende
ist und da habe ich jetzt nie irgendwie groß Emotionen gehabt, dass ich gesagt hätte,
ich hätte vielleicht noch länger fahren können. Das ist erledigt. Aber wenn die die
gleichen Pässe fahren oder die gleichen Berge und Zielankünfte – klar erinnert man
sich, wie es damals war, wer da vorne war und wie es einem selber gegangen ist.