Kurzgeschichte: Der Schnee kommt immer in der Nacht

Text: Laura Schwetz – Bild: (c) Pixabay – Illustration: Julia Brandl

Meine Zehen froren innerhalb der wollenen Socken, welche ich in meinen Lederschuhen trug. Es war kalt geworden die letzten Tage – extrem kalt.

Von Osten her zog die gesamte letzte Zeit ein eisiger Schauer über das Land, doch die Kaltfront, mit der wir es dieses Mal zu tun hatten, war besonders hartnäckig.

Die Bäume wiegten sich in einem Wind aus schneidender Kälte und kühlem Trotz und die dunklen Wolken, die über unsere Häupter hinweg zogen, tilgten längst jeden Sonnenschein.

Die Wasser froren langsam zu und ein Winter zeichnete sich ab, der nicht so war, wie die vor ihm.

Wir schrieben das Jahr 1918 und ich war allein. Wir alle waren allein.

Die letzte Zeit brachte viele Veränderungen mit sich; wann immer mein altes Mütterchen in der Küche stand und ihren schwarzen Lappen durch die Luft schwang, murmelte sie:

>>Niemand hätte mit einem solchen Ausgang gerechnet. Vieles, aber nicht das. Und jetzt? Jetzt sind wir alle allein, sie haben uns alle zurück gelassen! Der Kaiser weg, die Anarchie da. Was soll denn jetzt nur werden?<<

Es war der Übergang in ein neues Jahr, von dem keiner wusste, was es mit sich bringen würde.

In der Tat war der Kaiser seit Oktober nicht mehr an der Macht und wir standen in den Trümmern unseres eigenen Ruins. Ach ja, und heute war Heiligabend.

Ein Weihnachten, das auf einen verlorenen Weltkrieg folgte, ein Weihnachten, in dem viele einsam unter dem Weihnachtsbaum saßen und ein Weihnachten, von dem keiner von uns wusste, was darauf folgte. Das erste Weihnachten einer blutjungen Republik.

Es waren in der Tat Tage, in denen viele Dinge an Bedeutung verloren und in denen viele Menschen auf der Suche nach ein wenig Halt in einer sehr unruhigen und unsicheren Zeit waren, mich selbst eingeschlossen.

Ich war junge achtzehn Jahre alt, meine Beine waren viel zu lang für mein Alter, meine Handflächen und Kleider viel zu aufgerissen und zerschlissen von der Arbeit, die vor keinem Halt machte, besonders, wenn die Männer selbst nicht da waren, die sie sonst verrichteten.

Mein Glück war es, dass ich damals, als der große Krieg begann, noch zu jung war, um eingezogen zu werden und bis jetzt dem Schicksal – wie durch eine glückliche Fügung – von der Schippe springen konnte.

Auf meine Familie traf das nicht zu: viele waren aus dem Dorf gerissen worden, um auf kaiserliches Geheiß gen Westen oder wohin auch immer zu ziehen…

Das betraf ebenfalls meinen Vater und meine beiden größeren Brüder, Tristan und Jakob, wobei von Papa und Tristan seit Monaten jede Spur fehlte… Kein Brief. Kein Lebenszeichen. Gott allein wusste, wo sie waren.

Vor circa zwei Jahren dann erreichte unseren Haushalt eine Eildepesche, worin stand, dass Jakob an der Front in Verdun gefallen war. Meine Mutter war außer sich und hatte tagelang nur vor dem Fenster gestanden, hinaus gesehen und still geweint.

>>Hannes, mein kleiner Hannes<<, hatte sie dann immer gesagt. >>Wenn wir wüssten, was da draußen alles passiert, dann kämen wir drüber rein. Du bist da, wenigstens du bist da.<<

Sie hatte recht, ich war da – im Gegensatz zu so vielen anderen, also versuchte wenigstens ich einen Hauch von Normalität in unser kleines Leben zu bringen, sodass sie und ich den Weltschmerz wenigstens für ein paar Augenblicke aus dem Kopf bekamen.

Ich sah auf und betrachtete den Himmel, der langsam immer dunkler wurde, weil allmählich die Dämmerung hereinbrach.

Heute hatte es ohnehin nicht viel Licht gegeben, doch auch das versank langsam in der Dunkelheit, was für mich bedeutete, dass ich langsam zum Haus zurück laufen sollte, also setzte ich gemächlich einen Fuß vor den anderen, verlor mich im Knirschen meiner eigenen Schuhe im knöchelhohen Schnee und schlenderte nach einer kurzen Runde über den Marktplatz an der Kirche vorbei, die kleine Straße hinauf, die zu unserem etwas abseits gelegenen Haus führte.

Sanfter, weißer Rauch stieg aus dem Kamin empor und in der Ferne sah man das Licht in den Fenstern brennen und ein kurzes Gefühl der Wärme stieg in mir auf. Meine Mutter war zu Hause und damit der einzige Mensch, mit dem ich auch schon die letzten Jahre mein Weihnachtsfest verbracht hatte…

Ich meine, es war nicht viel, aber genug. Wir waren uns selbst genug, denn wir wussten, irgendwo ging es immer weiter.

Als ich auf der Schwelle angekommen war, zog ich den rostigen Schlüssel aus meiner Tasche, drehte ihn im Schloss herum und zog die Schuhe im Flur aus. Meine dicken Socken trennten meine kalten Füße von der Kälte des Bodens und so betrat ich die warme Küche, in welcher es schon nach Essen duftete.

Ich schritt hinüber zum Tisch, nahm die kleine Kerze in die Hand, die auf einem Ständer auf einem großen Tannenzweig ruhte, entzündete ein Streichholz und stellte sie mit zuckender Flamme wieder zurück.

In diesen Tagen war ein Tannenbaum die letzte Sorge der Menschen: das Geld war knapp und damit irgendeine Form von Weihnachtsgeist noch knapper.

Ich wollte das so nicht stehen lassen und hatte beschlossen, wenigstens einen kleinen Hauch von Weihnacht in unser Haus zu holen, also hatte ich mich vor einigen Tagen auf den Weg in den Wald gemacht, einige Tannenzweige geschnitten, sie im Hause aufgehängt und ein oder zwei Kerzen dazu gestellt.

Viel mochte es nicht helfen, doch meiner Mutter schien es zu gefallen; sie hatte einen hoffnungsvollen Schimmer in den Augen, als sie mich darauf ansprach und meinte nur wieder mal:

>>Hannes, mein kleiner Hannes. Du bist wie dein Vater, er wäre auch auf solche Ideen gekommen…<<

Dann war ihr Blick wieder in die Ferne geschweift, zu einem Ort, den nur sie kannte. Sie hatte sich abgewendet und war gegangen, aber ich wusste, dass ich ihr wenigstens für einen kurzen Augenblick ein Stückchen Hoffnung zurück gebracht hatte und das war dies alles wert.

Ich saß am Tisch und ich weiß wirklich nicht, wie lange ich nur dort verharrte und die Maserung des Holzes auswendig lernte, aber irgendwann waren meine Augen der Musterung so lange gefolgt, bis ich meinte, eine Art System in ihr wiederzuerkennen.

Eine Art Monotonie überkam mich und meine Finger fingen an, in einem seltsamen Takt zu wippen, der irgendwann zu einem Rhythmus verkam, den ich sicher einige Minuten gedankenlos vor mich hin klopfte, als ich plötzlich aufsah und mich eine seltsame Stille überkam.

Ich drehte den Kopf und wurde ganz leise. Das Klopfen, das ich langsam aufgehört hatte, war immer noch da.

Wie konnte das sein?

Meine Finger bewegten sich nicht.

Ich sah Richtung Flur. Es war wirklich noch da. Ein leises Klopfen. Und es kam von der Tür.

Konnte das denn sein?

Es war dunkel und kalt draußen, wer hatte sich um diese Zeit, an diesem Abend, auf den Weg zu uns gemacht?

Von einer seltsamen Neugier gepackt, machte ich mich auf und schlurfte bedächtig in den Flur, nur um mir meinen Rock überzustreifen und die Tür einen Spalt weit aufzuziehen.

Als sie sich immer mehr öffnete, stieß mir kalte Luft entgegen und ich merkte, dass es noch kühler geworden war, seitdem ich nach Hause zurück gekehrt war.

Meine Hand wand sich immer stärker um die Klinke und ich musste im ersten Augenblick blinzeln, weil ich für einen Moment gar nicht klar einordnen konnte, wem die Silhouette gehörte, die ich da im Schein der Eingangslaterne sah.

Das Gesicht kam mir bekannt vor, aber es stimmte nicht mit dem überein, dem ich es zuerst zugeordnet hätte: die Wangenknochen standen deutlich hervor und die Gesichtszüge waren allgemein hager, über dem Bart an der Oberlippe klaffte eine Narbe, die ich noch nicht kannte und die Haare waren zerzaust und sahen aus, als ob sie seit Wochen keinen einheitlichen Schnitt mehr gesehen hätten.

Nur die Augen waren immer noch die gleichen, sie erkannte ich auf Anhieb und ihre grünliche Färbung versetzte mich für einen Moment in eine Art Trance. In mir stieg schlagartig ein Gefühl der Verbundenheit auf, so als ob ich diesen Menschen nicht vor Jahren das letzte Mal gesehen hätte.

Es war, als ob er uns gestern verlassen hätte.

Genau diese Augen umgab nun ein Ausdruck, der nicht mehr der derselbe war, wie der, als ich sie zuletzt gesehen hatte.

Auch sie mussten so vieles gesehen haben, was man an einem Abend nicht erzählen konnte, so vieles gesehen haben, das man nicht in Worte fassen konnte, so vieles gesehen haben, das diesen Menschen so verändert hatte.

Einem spontanen Impuls folgend, streckte ich meine Hand aus, ich wusste nicht genau nach was, oder was ich genau erwartete, doch irgendwie wollte ich die Entfernung überbrücken, die zwischen uns entstand.

Die metaphorisch all die Jahre zwischen uns entstanden war und nun innerhalb weniger Augenblicke wie nichts in sich zusammen fiel. Die all die Jahre wie ein grauer Schleier über dieser Familie gelastet hatte und nun auf einmal heruntergerissen wurde.

Und so standen wir nun da. Getrennt nur durch die Türschwelle zwischen unseren Fußspitzen.

Keiner von uns bewegte sich.

Nicht mal ein Finger rührte sich.

Niemand verzog eine Miene.

Wir standen bloß da.

Stille kehrte ein. Abermals.

Die kalte Luft biss uns in die Gesichter und in der Ferne fegte dieser eisige Wind über die Felder, doch wir rührten uns nicht.

Wir standen nur da, wie angewurzelt und sahen uns tief in die Augen. Sogen die Gesichtszüge des anderen ein, glichen sie mit dem ab, was über all die lange Zeit zu einer verschwommenen Erinnerung geworden war.

Plötzlich wurde ich von einem starken Arm nach vorne gezogen und gegen einen rauen Feldrock gedrückt. Ich fand mich in dieser energischen, bestimmten Umarmung wieder und konnte zunächst nicht fassen, was geschah, da das alles so surreal für mich war, bis ich begriff, dass das alles hier wirklich sein musste, weil ich warme Tränen auf meiner kalten Haut spürte und das Schluchzen unüberhörbar wurde.

Auch ich bemerkte nun den Knoten in meinem Hals und musste schlucken, um wieder einen klaren Gedanken zu fassen.

Erst, als ich mich nach einiger Zeit wieder löste, räusperte ich mich etwas und sprach mit erstickter Stimme:

>>Tristan, wir sollten hinein gehen… Mama hat das Essen schon aufgesetzt…<<

Mir war gar nicht klar, mit welch einer Gelassenheit ich so etwas alltägliches aussprach, obwohl es mehr als alltäglich war, dass mein Bruder jemals wieder mit uns am Tisch sitzen würde.

Wortlos lösten wir uns aus der Umarmung und erst jetzt bemerkte ich, dass er mit einem Arm eine großzügige Ledertasche über die Schulter hievte und mit den schneebedeckten Schuhen über die Schwelle in unseren weiß gekalkten Flur trat.

Da, wo der andere Arm sein sollte, war die Jacke umgeschlagen und an die Front gepinnt. Anscheinend hatte der Krieg seine Spuren hinterlassen.

Ich blinzelte nur ein paar Mal, wischte mir selbst die Tränen aus den Augen und deutete wortlos zur Küche hinüber, von wo man Mama leise eine Melodie summen hörte.

Tristan nickte mir nur zu, ließ die Tasche auf den Boden sinken und ging langsam zur Tür. Ich blieb im Gang zurück und bekam mit, wie die Melodie schlagartig erstarb, ein unterdrückter Schluchzer zu hören war und unsere Mutter meinem Bruder um den Hals fiel.

Ich ging nicht hinein, ich wollte ihnen diesen Moment nicht klauen.

Ich stand einfach nur da, wie vorher schon und spürte nur, wie auch mir die Tränen die Wangen hinunter liefen.

Das war das erste Mal seit Monaten, dass diese künstliche Mauer aus Abgeklärtheit und Trotz in sich zusammen brach und wahrer Freude wich.

Mit einem zarten Grinsen auf meinen Lippen, wendete ich mich zur Tür, ließ sie ins Schloss schnappen und lehnte mich dagegen.

Eine ganze Zeit lang stand ich noch so da und ließ diesen überwältigenden Moment erst einmal zur Gewissheit werden. Tristan war wieder da. Er lebte. Und war nach Hause zurück gekehrt.

Erst jetzt wurde mir klar, dass dies ein ganz besonderes Weihnachten war: wir würden nicht zu zweit am Tisch sitzen und leise unsere Lieder singen, dieses Mal waren wir zu dritt und würden mehr eine Familie sein, als wir es die letzten Male jemals waren.

Auch ich machte mich nun auf den Weg in die Küche und musste noch einmal die aufkeimenden Tränen unterdrücken, als ich meinen Bruder, die zitternden Hände meiner Mutter in seiner haltend, mit ihr am Tisch sitzen sah.

Zwischen ihnen lag nur der Tannenzweig, mit der Kerze darauf, deren Flamme aufgeregt hin und her flackerte.

Keiner sagte etwas, nur ich setzte mich mit einem Stuhl dazu und sah beide an.

Die Stille wurde erst unterbrochen, als mein Bruder sich mir zuwandte, einen alten, heimeligen Schimmer in den Augen.

>>Hannes, wie ich sehe, hast du dich gut um Mama gekümmert. Ich bin stolz auf dich.<<

Ich lächelte ihn an und erwiderte nur:

>>Ich tat mein Bestes.<<

Tristans Augen leuchteten und er atmete hörbar aus: >>Ich denke, das taten wir alle, nicht war? Über all die Zeit taten wir unser Bestes und manchmal reicht es eben, aber manchmal auch nicht.<<

Ich sagte nichts. Er fuhr fort.

>>Ich bin erleichtert zu sehen, dass es dieses eine Mal wohl gereicht hat. Euch hier sitzen zu sehen, war alles, was ich für vier Jahre wollte.<<

Mutter fing an zu weinen und drückte seine Hand nun fest in ihren.

Ich sah auf den leeren Ärmel seiner Uniform und fragte nur leise: >>Doch zu welchem Preis?<<

Sein Blick folgte dem meinen und er schwieg kurz, dann erwiderte er: >>Weißt du, Bruderherz, was beobachtest du, sobald du aus dem Fenster siehst?<<

Ich stockte, nicht wissend, in welchem Kontext ich diese Frage zu verorten hatte.

>>Lichter in der Ferne, es ist dunkel draußen.<<

>>Und wenn du hinauf zum Himmel schaust? Was siehst du dann?<<

Ich überlegte.

>>Wolken? Sterne sieht man keine, es ist bewölkt…<<

Er bedachte mich nur mit seinem warmen Blick, wie er es früher öfter getan hatte und lächelte mich an.

>>Genau. Die Wolken sind zwar da, aber sie fallen uns nicht auf, weil es dunkel ist und wir im Finstern öfter mal stolpern. Aber weißt du was? Das ist nicht schlimm, denn wir fallen weich.<<

Ich war unschlüssig, was er mir sagen wollte.

Begriffsstutzig entgegnete ich nur: >>Aber wir fallen hart, draußen ist alles gefroren.<<

Mein Bruder lachte nur und schüttelte den Kopf.

>>Es ist gefroren draußen, weil es kalt geworden ist in letzter Zeit. Und mit der Kälte kommt der Schnee.<<

Er legte die verbliebene Hand auf meine Schulter und sah mich tief an.

>>Der Schnee kommt immer in der Nacht.<<

Die Landschaft lag an jenem Abend im Schnee und alles, was in dieser Nacht Helligkeit bot, waren die vereinzelten Lichter in den Häusern der Dörfer.

Sterne waren keine zu sehen, aber weiße Flocken brachen aus der Wolkenschale und glitten langsam aber stetig zum Boden auf uns alle herab.

Schreibe einen Kommentar