Kurzgeschichte: Heimkehr

Text: Lisa Metzger – Bild: (c) Pixabay – Illustration: Julia Brandl

Ein schriller Pfiff hatte ihn aus seinen Tagträumen gerissen. 

Es dauerte einen Moment bis er wieder wusste wo er war. Durch die rußbeschmutzten Fenster des Zugabteils, in dem er saß, sah er ein kleines unscheinbares Schild an einem alten heruntergekommenen Gemäuer hängen, das die Aufschrift »Srabvonič« trug. 

Ein erneuter Pfiff hallte nun über den Bahnsteig und der Zug setze sich wieder in Bewegung und der kleine Bahnhof von Srabvonič verschwand langsam aus seinem Blickfeld. 

Sie waren also bereits in Srabvonič – nun konnte es nicht mehr lange dauern. 

Wie lange er schon nicht mehr hier war. Ein Jahr? Eineinhalb? Während die schneebedeckten Fichtenwälder an ihm vorbeizogen und der Zug ratternd seinen Weg durch diese verloren geglaubte Wildnis fortlegte, versuchte er sich zu erinnern. 

Damals war es auch Winter. Es musste also ungefähr die gleiche Zeit gewesen sein. Wobei er sich nicht sicher sein konnte, da die Winter hier stets länger dauerten als zuhause. – zuhause

Oft genug ertappte er sich bei dem Gedanken den Ort, wo er nun wohnte sein Zuhause zu nennen. Dabei war es doch hier, in dieser verschneiten, winterlichen Ewigkeit, wo er aufgewachsen war. 

Je weiter sie ins Landesinnere vordrangen, desto unbeständiger wurde das Wetter. Die grelle Wintersonne hatte sich inzwischen hinter dichte Wolken zurückgezogen und überließ unzähligen, kleinen Schneeflocken die Regie in ihrem winterlichen Ensemble. Sein Blick schweifte hinüber, tief hinein in die wilden, ungezähmten Wälder, die an ihm vorbei zogen. Die Bäume standen hier so eng beieinander, dass man im Sommer nur ein einziges dichtes, schier undurchdringliches Blätterwerk sehen konnte. Doch jetzt, wo der Winter seinen Triumph über das Land verkündete, ließ sein weißes Perlengewand die Farben des Sommers gänzlich verschwinden und man konnte meilenweit durch die mächtigen Baumstämme hindurch sehen. 

In nichts anderem konnte er sich so verlieren wie hier, zwischen diesen Bäumen. 

Wie oft hatte er als Kind in diesen Wäldern gespielt. Oft hatte er ganze Tage darin verbracht, zusammen mit seinen damals besten Freunden Jaro und Kaska. Was wohl aus ihnen inzwischen geworden ist? Er erinnerte sich, dass ihm seine Mutter einst erzählte, dass Jaro in die nächst größere Stadt gezogen war – der Arbeit wegen, hieß es, was niemanden überraschen durfte, der einmal in diese Gegend kam. Viele junge Leute zog es von hier fort und die meisten von ihnen verließen Dalin Bog, weil es keine berufliche Perspektive gab. Einzig Kasko war dem Dorf noch geblieben und soweit er wusste, besaß er dort sogar einen kleinen Betrieb. Dies stand zumindest in den vielen Briefen und wenigen Emails seiner Mutter. Sie hasste Computer, sie »verstand sie einfach nicht«, behauptete sie stets, wenn man sie darauf ansprach, dass eine E-Mail doch viel schneller und effizienter wäre als ein Brief. Doch sie wollte nichts davon wissen. Er konnte zuhause inzwischen ganze Zimmer mit Briefen tapezieren und doch hörte sie nie damit auf ihm welche zu schicken. Der Postbote belächelte ihn stets etwas ungläubig, wenn er ihm mal wieder eines dieser altertümlichen Relikte in die Hand drückte. Aus der Innentasche seines Mantels holte er ein zerknittertes, dickes Stück Papier hervor. Das war ihr letzter Brief, den er erhalten hatte. Der Grund weshalb er nun in diesem Zug nach Dalin Bog saß. Auch darin hatte sie über Kasko gesprochen: »Er tut sich schwer den Betrieb am Leben zu halten, hat immer zu kämpfen, aber gibt nie auf.« Bei diesem Gedanken fühlte er sich schuldig und wütend zu gleich. Es wirkte für ihn wie eine Anklage. Jedes Mal, wenn er hierher zurückkehrte hatte er dieses Gefühl. 

»Wo bist du gewesen?«

»Warum warst du nicht da?«

»Wieso kommst du erst jetzt?« 

Diese Worte stammten nicht von seiner Mutter oder von sonst irgendwem aus seiner Familie oder seinem Dorf. Diese Worte kamen nur aus ihm selbst, das war ihm klar. Diese Fragen, die ihn trafen wie tödliche Gewehrkugeln – all diese Fragen stellte nur eine Person: er selbst. 

So war es seitdem er Dalin Bog verlassen hatte. 

Draußen rauschten nun die Schneeflocken in einem wilden Treiben an ihm vorüber. 

Mit einer Hand fuhr er sich über Stirn und Augen. Er war müde, sehr müde. Es war eine Müdigkeit, die er bereits sehr lange in sich trug. Seit sieben Stunden war er nun unterwegs und doch war diese Reise nicht der Grund für seinen miserablen Zustand, auch das wusste er. Der junge Mann, der ihn von diesen rußbeschmutzten Fensterscheiben aus anstierte, war nicht der Mann, den er dort vor einem Jahr gesehen hatte (oder waren es doch zwei?). Er wirkte abgeschlagen, ohne jegliche Freude – ja, in seinen Augen konnte man fast schon Traurigkeit erkennen und aus seiner ganzen Haltung, so wie er sich in diesen alten, mottenzerfressenen Polyestersitz kauerte, konnte man die Angst ablesen. Aber vor was? Was war es was ihn so ängstigte? Im Prinzip hatte dieser junge Mann doch nichts zu fürchten. Sein ganzes Leben liegt noch vor ihm. Er hat einen gut bezahlten Job, eine schöne Wohnung, »Freunde« noch und nöcher und eine Familie, die ihn trotz der Distanz liebt. 

Was also war sein Problem? 

Draußen hatte sich das Schneetreiben inzwischen zu einem regelrechten Schneesturm entwickelt. Es war einem kaum möglich die dunklen massiven Baumstämme zu erkennen, alles verschwand hinter einer dichten grauweißen Wand aus Schnee und Eis. Und so blieb ihm nichts anderes übrig als weiterhin seine Zeit neben diesem unliebsamen Abteilgenossen zu verbringen. 

Plötzlich erklang ein lautes Knarren durch das kleine Abteil.

 »Guten Tag, mein Herr. Ihre Fahrkarte, bitte!«

Er war froh sich von dem Bild seines Reisebegleiters für einige Zeit loseisen zu können, zog die Fahrkarte aus seinem Mantel und hielt sie der Kontrolleurin entgegen. Sie ließ sich etwas Zeit dabei der Karte ihren Stempel aufzudrücken. Ihre Augen flogen zunächst über das Ticket und wanderten dann langsam zu ihm herüber. 

»So so, sie kommen also aus Berlin. Ist ja ein ganz‘ schönes Stück Weg was sie da hinter sich ham.« 

Er sah sie an und lächelte etwas gezwungen. »Ja. Ist es.« 

»Wissen sie, ich war noch nie in Berlin. Bin nie weiter als nach Drabalin gekommen, selbst mit einem Job wie diesem hier, was sach‘ man dazu.« In ihrem Blick lag etwas erwartungsvolles. Er hatte schon die Befürchtung, sie wolle mit ihm ausführlicher reden, als sie mit einem »Na dann, gute Reise« und einem »Schöne Feiertage« sich umdrehte und die Abteiltür hinter sich ins Schloss raste. 

Feiertage? Etwas beschämt und doch amüsiert über sein Versäumnis schmunzelte er in sich hinein. Er hatte für einen Moment doch tatsächlich vergessen was sie damit meinte. 

Weihnachten stand vor der Tür und er hatte es total vergessen. – Wahrlich. 

Was für ein Trost dem Narr, der nichts von seinem Tod erfuhr und stets weiterlachte. 

Wie konnte er den Grund für seine Heimreise so einfach vergessen? Wirklich verwundert war er jedoch nicht. Er vergaß ständig irgendwelche Dinge, die für ihn einst wichtig waren. Seien es Geburtstage und Verabredungen mit Freunden, die Neueröffnung einer Ausstellung in die er gerne gegangen wäre, der Anfang eines neuen Kinofilms, der ihn interessierte oder sei es auch nur das banale Vorhaben ein bestimmtes Buch zu lesen. Er vergaß ständig solche Dinge. 

Doch das war eine Lüge. Er vergaß sie nicht. Er erinnerte sich an jede einzelne schmerzlich genau, davor wie danach. Er vergaß sie nicht. Er zögerte sie hinaus. Er verschob sie auf den nächsten Tag, die nächste Woche, den nächsten Monat. Und so hüpften die kleinen Haftzettel in seinem Kalender stets Woche um Woche davon, in weite Ferne. Er suchte lange nach dem Grund, weshalb er nie dazu kam gewissen Dingen, die ihm Freude bereiteten, Zeit zu schenken. Zuerst behauptete er, dass ihn die Arbeit zu sehr einnehmen würde, doch auch das war eine Lüge. Seine Arbeit war anspruchsvoll, ohne Frage kostete sie ihm viel Zeit und Energie. Doch nicht so viel als dass er es nie geschafft hätte ins Kino zu gehen, ein Buch zu lesen oder Freunde zu treffen. Erst vor kurzem hatte er sich dabei ertappt wie er einmal früher nach Hause kam und trotz der gewonnen Zeit nichts von alledem machte. Stattdessen vergrub er sich auf dem Sofa, schaltete den Fernseher an, teils aus Bequemlichkeit teils aus Gewohnheit, und ließ das melodramatische Dröhnen einiger Folgen von irgendeiner Serie über sich ergehen. Als er dann schließlich zu Bett ging fühlte er sich taub statt belebt. Er verspürte nichts von der gewonnen Zeit und er war um keine Erfahrung reicher geworden. Wie oft hatte er davon geträumt, wie oft hatte er es sich zur Aufgabe gemacht diesen Teufelskreis des Alltags zu durchbrechen, seinem Leben endlich mehr Sinn zu verleihen. 

In Berlin war alles lauter, heller und hektischer als hier. Die Stadt nährte sich von ihren Bewohnern, sie beraubte sie ihrer Zeit und Energie und gab man nicht acht, ließ sie einen in ihrem Labyrinth des Wahnsinns verkommen. War dies ein Leiden der Großstadt oder ein Leiden dieser Zeit? Die Antwort darauf schien ihm nicht wichtig. So oder so wäre er ein Gefangener gewesen. Doch war er allein in diesem Gefängnis? Diese Frage erschien ihm bedeutend wichtiger. Denn während alle anderen scheinbar mühelos zurechtkamen, hatte er das Gefühl stets hinter allem herzurennen – besonders um diese Zeit (Achja, richtig: Weihnachten stand vor der Tür). 

Wer konnte bei all dem Chaos das täglich um einen herum schwirrte überhaupt noch an so etwas wie Weihnachten denken? Besinnlichkeit. Bei diesem Wort musste er wieder lachen. Gerade um diese Zeit war nichts von dieser Besinnlichkeit zu spüren, vor allem zuhause– in Berlin. Zuhause … 

Weihnachten zuhause– hier, in Dalin Bog, das war etwas völlig anderes. In jeder Hinsicht unterschied es sich von dem konsumorientierten, prunkvoll aufgewerteten Großereignis der Stadt. Sein Blick wanderte zu seinen Händen, in denen er immer noch den Brief seiner Mutter hielt. Er zog ein kleines vergilbtes Bild aus dem Inneren des Umschlags. Ein Foto aus längst vergangenen Zeiten. Es zeigte einen älteren Mann und einen Jungen, der vielleicht zehn oder zwölf Jahre alt war. Der Mann saß in einem alten Sessel, während der Junge auf seinem Schoß saß und frech und aufgeweckt in die Kamera strahlte. Im Hintergrund konnte man einen spärlich geschmückten Baum erkennen. Die Fotografie musste gut zwanzig Jahre alt sein. Die ganze Fahrt über hatte er dieses Bild immer wieder hervorgeholt, eine Weile betrachtet und wieder in den Umschlag gesteckt. Es schien ihm wie ein Überbleibsel aus einem anderen Leben. Eine Art Beweisstück, dass es dieses Leben tatsächlich gab. Sein Blick fiel auf den alten Mann. Sein Großvater hatte sich in all diesen Jahren kaum verändert. Er war ein stämmiger, liebenswerter Mann. Einen Großvater wie man sich ihn vorstellt. Inzwischen hatte ihn das Alter natürlich eingeholt und die Zeit forderte langsam aber unaufhaltsam ihren Preis. 

»Komm heim.«, hatte ihm seine Mutter geschrieben. »Dein Großvater ist sehr alt. Keiner weiß, wie lange er noch hat – vielleicht ist es sein letztes Weihnachtsfest. Komm heim.«

Er hatte schon länger damit gerechnet, doch nie hatte sie ihn derart aufgefordert heimzukommen. Erneut fühlte er sich angegriffen. Emotional erpresst. Schuldig in allen Anklagepunkten. Und erneut verspürte er eine Art traurige Wut in sich. Schuld. Weshalb sollte er sich schuldig bekennen? 

Es war gut, dass er wegging. Er musste weggehen, Dalin Bog verlassen. Nicht nur der Arbeit wegen. Er musste sich selbst finden. – Wums.Die Wucht dieses Gedanken erschlug ihn beinahe. 

Sich selbst finden? Ja … wenn er tatsächlich Schuld trug, dann an diesem Verrat an sich selbst. 

Er erinnerte sich noch gut daran mit welchen Vorstellungen er damals von hier fort ging. Er dachte doch tatsächlich, dass ihm die Stadt mit all ihren Möglichkeiten mehr zu bieten hätte als ein kleines armes Dorf am Rande der Welt. Das Versprechen der Zivilisation, man könne sich dort selbst finden und zu dem werden, der man sein möchte, lockte ihn damals in die Ferne nach Berlin. 

Und heute, heute war er sich fremder als jemals zuvor. 

Er hetzte von einem Ereignis zum nächsten, konzentrierte sich zu sehr auf die Dinge die er machen musste, statt auf die Dinge, die er machen wollte und verlor dabei aus den Augen, was dieser Marathon mit ihm und aus ihm machte.  

Sein Blick haftete nun auf dem Jungen, der auf diesem Foto so stark und selbstsicher wirkte. 

Was ist aus ihm geworden? 

Mit einem mal erinnerte er sich an die Weihnachtstage seiner Kindheit. 

Sie hatten nie viel wie alle im Dorf. Einen Baum zu haben war schon das größte und selbst dieser war, wie auf diesem Foto, meist nur ärmlich geschmückt. Geschenke waren generell eine Seltenheit und auch das Weihnachtsessen wurde danach ausgerichtet was gerade erschwinglich war. Und doch waren diese Weihnachtsfeste für ihn immer das schönste vom ganzen Jahr. 

Doch je älter er wurde, desto unzufriedener wurde er. Der überhebliche Teenager, der er war, war es leid in diesem rückständigen Dorf zu leben. Er erwartete sich mehr von seinem Leben. 

Sein erstes Weihnachten in Berlin war für ihn wie ein Rausch. Der Überfluss, den die Stadt mit diesem Fest zelebrierte, all die Lichter, die tausend buntverpackten Geschenke, das herrliche Essen und der gute heiße Wein in Massen – all das wurde für ihn zu einer regelrechten Sucht von der er nicht mehr loskam. Nach diesem weihnachtlichen Spuk wirkte die Stadt für ihn geradezu trist und grau. Der Rausch, in dem er sich seit Wochen befand verebbte mit einem mal und zurück blieb er –völlig erschöpft. 

Seitdem war Weihnachten für ihn nur noch eine verhasste Geliebte, die jedes Jahr um diese Zeit wiederkehrte und ihn anbettelte es doch noch einmal mit ihr zu versuchen. Sich erneut dem Rausch hinzugeben, den diese Liebschaft mit sich brachte. Doch er verschanzte sich in seiner Wohnung und wartete verzweifelt darauf, dass sie fortgehen möge und nicht mehr an seine Tür klopfte. Oft war ihm der Gedanken gekommen, er könnte diesem Wahnsinn entfliehen indem er hierher kommen würde, zurück nach Dalin Bog. Doch wie mit all den anderen Dingen, die er sich vornahm, so verschob er auch diese Pläne Woche um Woche, bis es zu spät war. 

KKrrrrpppp.Diesmal war es ein unsanftes Ruckeln was ihn aus seinen Gedanken aufschrecken lies. Der Zug war zum Stillstand gekommen. Nichts ging mehr vorwärts. Er sah hinaus. 

Das Schneetreiben hatte sich inzwischen beruhigt und nur noch einzelne Flocken wirbelten durch die eiskalte Dezemberluft. Aber sie waren doch noch längst nicht am Ziel? Bis nach Dalin Bog waren es noch gut zehn Kilometer, wenn er sich nicht irrte, was – bedenkt man wie lange er nicht mehr hier war – gut sein konnte. 

Er zuckte zusammen, denn die Abteiltür wurde erneut, diesmal recht unsanft, aufgerissen und die Kontrolleurin von vorhin steckte ihren Kopf durch die Tür. Diesmal war er es, der sie erwartungsvoll anstarrte. 

»So so, immer noch hier was?« (Was für eine Frage. Wo sollte er denn sonst sein?) Doch sie redete weiter, offensichtlich nicht auf eine ernstgemeinte Antwort wartend. 

»S’gibt ein kleines Problem. Wir stecken fest. Die Ankunft in Dalin Bog wird sich wohl etwas verzögern. S’liegen Äste auf den Gleisen. Sie verstehen? Sollte nicht allzu lang dauern, keine Sorge.« 

Und ehe er darauf etwas antworten konnte war sie auch schon wieder verschwunden. 

Welch Ironie. »Feststecken«. Das war ja nun nichts neues. Man könnte fast meinen, der Zug hätte seine Gedanken gelesen und kurzer Hand beschlossen sich ebenfalls auf die lange Liste der Dinge einzutragen, die er hinauszögerte. 

Die Scheiben des Zuges liefen durch die Kälte an und die schneebedeckten Wälder sah man nun durch einen seichten Nebel aus Dunst. Es war paradox. Sobald er sich selbst im Spiegel der Fenster sah, empfand er nichts als eine beklemmende Fremdheit, doch sobald er sich dem Wald zuwandte stieg tief in ihm ein Gefühl der Vertrautheit empor. Ein Gefühl, dass er nur hier verspürte. Konnte es sein, dass die Antwort auf all seine Fragen hier lag und nicht zuhause – zuhause in Berlin? 

Im Augenblick eines Wimpernschlags sah er eine Gestalt am Waldrand auftauchen. 

Es war ein Hirsch. Ein Hirsch, dessen Geweih ebenso gewaltig war, wie seine ganze Erscheinung. Majestätisch und stolz stand er da, schaute hinüber auf den Zug, diesen Blechwurm, der er wohl für ihn war und stand ganz still, hoch erhobenen Hauptes – den Blick auf ihn gerichtet. Auf ihn?Lächerlich, wieso sollte dieses Tier ausgerechnet ihn anschauen? Und doch, es sah so aus, als ruhte sein Blick auf ihm. Mit einem Mal erinnerte er sich an eine Geschichte. Eine, die sein Großvater ihm einst erzählte als sie durch diese Wälder streiften. 

Auch damals trafen sie auf einen Hirsch wie diesen. 

»Hör gut zu, Domian.«, hatte er damals zu ihm gesagt. »Ich verrate dir nun etwas. Du darfst es nie vergessen, es ist sehr wichtig.« Er hatte es ihm versprochen und der Großvater fuhr fort: 

»Vor einiger Zeit, du warst noch nicht von dieser Welt, da wurden Hirsche, wie dieser dort, von uns Menschen gejagt und getötet. Doch nicht nur das, wir rodeten ihre Wälder und verdrängten sie aus ihrem Zuhause. Natürlich nicht von jetzt auf gleich. Es fing alles ganz langsam an, Stück für Stück. Doch der Mensch konnte nicht an sich halten, er tötete und rodete unentwegt weiter und die Gier und Maßlosigkeit der Menschen hat nicht nur dazu geführt, dass sie die Existenz der Hirsche bedrohten, sondern auch ihre eigene. Doch dies erkannte der Mensch nicht. Nun, am Vorabend von Heiligabend verschwand plötzlich ein Kind, ein kleines Mädchen aus einem der nahegelegenen Dörfer. Niemand wusste was mit ihr passiert war. Und statt zur alltäglichen Jagd zu gehen, begaben sie sich auf die Suche nach ihr. Es war eiskalt und die Hoffnung sie wohlbehalten zu finden schwand mit jeder Stunde die sie länger suchten. Sie waren schon tief im Herzen des Waldes als sie plötzlich erstarrten. Dort, direkt vor ihnen waren drei riesige Hirsche aufgetaucht und einer von ihnen trug auf seinem mächtigen Rücken das kleine Mädchen. Es war halb erfroren, aber am Leben. Die Männer traten langsam heran und wickelten das kleine Mädchen in dicke Decken. Ohne dem Hirsch ein Leid zuzufügen, verließen sie den Wald und als sie wieder im Dorf waren, erzählte das kleine Mädchen, dass sie sich verlaufen hatte und fast erfroren wäre, hätte der Hirsch sie nicht gefunden und die ganze Zeit über gewärmt. Von diesem Tage an, ging keiner von ihnen mehr auf die Jagd und auch das Roden der Wälder fand ein Ende. Stattdessen trugen die Menschen jedes Jahr um Weihnachten kleine Gaben in den Wald, um den Hirsch zu ehren und den Tieren des Waldes dafür zu danken, dass sie auf die Menschen Acht gaben als die Menschen selbst es nicht taten.« 

»Weißt du, Domian«, hatte er gesagt. »Es ist wie mit allem im Leben: Sorgen wir uns nicht um die Dinge, die wichtig sind, werden diese Dinge uns eines Tages verlassen. Und wir verlieren mehr als nur die Dinge selbst. Wir verlieren uns. Also sag mir Domian, wirst du auf dich achten, wie der Hirsch auf das kleine Mädchen achtete?«

Ein Lächeln flog über sein Gesicht. Der Hirsch stand immer noch da und sah zu ihm herüber. So wie er einst über das kleine Mädchen wachte, so hatte er das Gefühl stand nun er unter seinem Schutz, – zumindest hier, zuhausein Dalin Bog. 

Kkrrrrrppp.– 

Der Zug erwachte wieder zum Leben und die Motoren ratterten wieder unter seinen Füßen. Er hatte sich nur für einen kurzen Moment abgewandt, und doch – als er wieder aufblickte war der Hirsch verschwunden. Wie als wäre er nie dagewesen. Und zum ersten Mal seit Stunden stand Domian auf, presste sich gegen die beschlagenen Fenster und versuchte die Gestalt am Waldesrand ausfindig zu machen. Doch er war weit und breit nicht mehr zu sehen. 

Wie war das möglich? Hatte er sich das nur eingebildet? Sowas konnte er sich doch nicht einbilden?

»Ich verspreche es.«, dachte er. »Ich werde dich nicht enttäuschen, alter Freund.«

»Was soll ‘n das werden?« 

Er drehte sich um. Ohne es zu merken stand die Kontrolleurin wieder in der Tür.

»Ich..ähm, ich dachte.«, stammelte er. Es sah bestimmt ulkig aus wie er gegen das Fenster lehnte. 

»Schon gut. Sie müssen nicht gleich ruppig werden. Großstädter wie sie haben es immer eilig, schon klar.« Er wollte gerade Einspruch einlegen, aber wie vorhin kam er auch hier nicht dazu. 

»Wir fahren wieder. Ham‘ sie ja bestimmt gemerkt. Nächster Halt ist dann Dalin Bog.«

»Ich weiß«, sagte er mit einem Lächeln. »Das wird ja auch Zeit.« 

»Na hör’n sie mal.« Und ohne, dass er erklären konnte was er damit meinte, drehte sie sich auch schon wieder um und war im Flur verschwunden. 

Er musste lachen. Lauthals und so wie er es schon sehr lange nicht mehr getan hatte. 

Seit einem Jahr war er nicht mehr hier, das wusste er jetzt. 

Ein Jahr, dass ihm viel länger vorkam als lediglich zwölf Monate. Doch nun war er fast am Ziel. Oder war es der Anfang? Wie auch immer, wenn er eine Chance hatte sich zu finden dann hier, zuhause– in Dalin Bog. 

All die Dinge, die er in Berlin zurückgelassen hatte waren nicht mehr wichtig. 

Selbst wenn man alles besitzt was man sich je erträumt hatte, wenn man sich selbst nicht kennt und sein Innerstes einem fremd geworden ist, dann wird man das Glück nicht finden. 

Man kann sich selbst nicht mehr finden, wenn man sein Leben auf die Warteliste setzt. 

Das war ihm jetzt klar. 

In der Ferne sah er nun die Häuser von Dalin Bog auftauchen. Er hatte keine Angst mehr vor dem was da auf ihn wartete. Er spürte keine Feindseligkeit mehr. Er war zuhause. 

Er würde alle wiedersehen – Kasko, seine Eltern und seinen Großvater. 

Und im Gepäck hatte er eine Geschichte, die er ihnen allen erzählen konnte und über die sich besonders sein Großvater freuen würde. 

Er würde sich freuen, dass Domian sein Versprechen nicht vergessen hatte.  

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