Veränderung

Zum wiederholten Mal an diesem Tag holte ich den, inzwischen abgegriffenen Brief hervor und dachte darüber nach, ob ich im Stande wäre dem Absender eine zufriedenstellende Antwort auf seine Frage zu geben. Ich blickte nach draußen. Ohne dass ich es bemerkt hatte, war es Abend geworden und die goldene Mittagssonne war bereits so gut wie komplett am Horizont verschwunden. Wundern Sie sich nicht, denn wenn ich eins mit Bestimmtheit sagen kann, dann dass selbst die Zeit alles andere als linear verläuft.

„Schön sie wiederzusehen, Herr Professor“. Der Fischhändler schenkte mir ein breites Lächeln, wobei es ihm nichts auszumachen schien, dass sich in seinem Mund nur noch ein einzelner, recht einsam wirkender Zahn befand. „Was darf es denn heute sein?“ Ich warf einen Blick auf die Auslage. Keiner der Fische sah heute besonders appetitlich aus und von einem ging sogar ein unangenehmer Geruch aus. Der Händler schien meinen Blick bemerkt zu haben, denn sein Lächeln schwand: „Leider ist das zur Zeit alles was wir haben und es kann durchaus passieren, dass ich in den nächsten Wochen überhaupt nichts mehr anzubieten habe, also vielleicht sollten Sie mit diesem hier vorliebnehmen“. Er wies auf einen kleinen Fisch am Rande der Auslage. „Ich weiß nicht“, sagte ich, „es gibt doch sicherlich noch mehr Fische im Teich“. Mein Gegenüber schüttelte bedauernd den Kopf. „Tut mir leid, nein, Sie wissen schon die Überfischung“. Ich beugte mich tiefer über die Fische und betrachtete die schillernden Schuppen des Kleinen. „Nun gut, ich schätze, dann muss ich Ihnen wohl vertrauen und nehme diesen kleinen, ähm, Barsch“.

Ich atmete tief ein und aus und genoss die Dunkelheit und die Stille um mich herum. Kaum jemand war zu dieser späten Stunde noch unterwegs und so konnte ich in Ruhe nachdenken. Eine Antwort würde schon sehr bald vonnöten sein, doch ich war mir mehr als deutlich bewusst, dass ich diese heute Nacht nicht mehr in mir finden würde. Es war ein fantastischer Abend gewesen, das musste ich zugeben. Ich hatte die Handschellen bei ihr gelassen, doch den Schlüssel hatte ich wieder mitgenommen. Ich seufzte. Noch nie hatte ich diesen aus der Hand gegeben, doch wie immer im Leben würde irgendwann ein Wendepunkt kommen, an dem man sich endgültig festlegen müsste.

Als ich sie das erste Mal erblickte, lösten sich meine kompletten Überzeugungen in Luft auf. Helena war einfach umwerfend. Von der ersten Sekunde an wusste ich, dass sie mehr war und nun, ich konnte mein Glück kaum fassen, war es so weit, da stand sie, in einem wunderschönen, blutroten Abendkleid, ihr schulterlanges goldenes Haar nach hinten gebunden und ihre Augen von solcher Tiefe, dass es mich nicht gewundert hätte, hätte ich mich darin verloren und wäre wie in einem schlechten Film gegen eine Laterne gelaufen, als ich auf sie zuging. Zugegeben ihr BMI entsprach nicht komplett dem niedrigen Wert, den ich mir gewünscht hätte, doch die meisten Frauen hätten Helena um ihre Figur beneidet. Wir nahmen Platz und ein livrierter Kellner reichte uns wortlos die Karte. Ich ballte die Hand unter dem Tisch zur Faust. Gleich würde sie gestellt werden, die berühmte Grätchenfrage. Sie nahm Barsch, ich Scholle. Das Feuer im Kamin uns gegenüber loderte auf. Helena lehnte sich zurück: „Das Essen war wirklich vortrefflich und ich muss sagen, es war bisher ein wundervoller Abend!“. Ich lächelte und betrachtete das wunderbare Schillern in ihren Augen, gerade als ein ältlicher Mann neben unserem Tisch stehen blieb: „Fräulein Moor, es muss ja eine Ewigkeit her sein, dass wir uns zuletzt gesehen haben!“. Sie wischte sich mit ihrer Serviette über den Mund. „Dr. Eschenbach, wie geht es Ihnen?“. Der Doktor lächelte nicht: „Mir geht es gut, ich muss aber leider weiter, meine Verabredung wartet. Nur gebietet es der Anstand Sie als ehemalige ähm Klientin zu grüßen“. Das Feuer loderte nun immer heller, während langsam die Nacht hereinbrach. Ich wappnete mich. Diesmal würde es an mir sein eine Frage zu stellen, eine Frage, auf die es nur eine zufriedenstellende Antwort geben konnte. „Werden wir uns wiedersehen?“. Sie lehnte sich wieder nach vorne und in ihren Augen spiegelte sich so viel mehr als das prasselnde Feuer. Für den Bruchteil eines Herzschlags, meinte ich eine Welle von Zuneigung zu spüren. In meinem Inneren pulsierte es und Glück strömte in jede Zelle meines Körpers, als sie den Mund öffnete: „Nein!“.

Der Schlag traf ihn mit der Wucht eines herannahenden Schnellzugs. Die Menge jubelte und johlte. Mit einem hässlichen Knirschen, brach der Kiefer und der Boxer sackte in sich zusammen. „Was für ein Kampf meine Damen und Herren, was für ein Kampf. Der Favorit geht zu Boden und ich glaube nicht, dass er sich davon nochmal erholt“. Mein Blick wanderte vom Ring zum Kommentatorenplatz und fiel dann auf Nele, die neben mir eingeschlafen war. Ich seufzte, nahm meinen Mantel und ging nach draußen, ohne ihr hübsches Gesicht noch einmal zu betrachten. Ich holte mein Handy hervor, doch ehe ich dazu kam zu wählen, kam eine Frau auf mich zu gerannt: „Sie haben doch sicherlich einen kleinen Moment Zeit?“. Ich kam nicht einmal dazu ja oder nein zu sagen, denn schon fuhr sie fort: „Haben Sie davon gehört, dass in dieser schönen Stadt ein Ring von Menschenhändlern aktiv ist? Sie können uns helfen dagegen vorzugehen, ganz einfach in dem Sie hier unterschreiben…“.

Lea wischte sich über die Mundwinkel und wollte gerade gehen, als ihr plötzlich noch etwas einfiel: „Herr Professor, es tut mir schrecklich leid, ich habe vergessen ihnen zu sagen, dass gestern Atef Ben Ali angerufen und sich für heute Nachmittag angekündigt hat!“. Ich lächelte: „Danke Lea, das ist wirklich nicht schlimm. Du bist eine wundervolle Sekretärin!“ Sie verschwand und es klopfte. Atef kam grinsend in mein Büro und ließ sich in einen der Sessel gleiten. „Denkst du etwa immer noch über die Sache nach? Ich habe dir doch letzte Woche erst gesagt, dass du damit aufhören musst, überleg mal wie lange das ganze schon her ist.“ Ich blickte aus dem Fenster: „Du hast ja recht und ich bin dir wirklich dankbar, dass du immer für mich da bist, aber mich beschäftigt einfach nur die Frage nach dem Wieso. Und mal im Ernst, unkreativer als ein bloßes Nein geht es wohl nicht“. Atef lachte: „Den ersten Punkt kann ich ja verstehen, aber was stört dich denn an einem Nein? Wie hättest du dich denn ausgedrückt?“. „Ich weiß es nicht, vielleicht ‚Es tut mir leid, aber die Gefühle zwischen uns sind wie ein Würfel im R²: etwas einseitig‘“.

Ich beobachtete Helena durch das Schaufenster und drehte den Ring zwischen meinen Fingern. Mein Herz klopfte. Ich konnte nicht fassen, welche Gefühle sie in mir auslöste, wie sie da in ihrem Kleid vor dem Spiegel stand und sich prüfend von links nach rechts drehte. Es begann zu regnen und ich überlegte, ob ich einfach nach Hause gehen sollte, doch das konnte ich nicht, nicht jetzt.

Atef hatte sich vor mir aufgebaut. „Was tust du da eigentlich gerade?“. Ich sah ihn an. „Du warst immer jemand der logisch gedacht hat, der sich nicht von seinen Gefühlen überrollen ließ. Du. Als Physiker, solltest wissen, dass es nicht wichtig ist wie hell ein Stern leuchtet, sondern wie nah uns dieser ist. Es gibt weitaus größere und beeindruckendere Sterne dort draußen, als unsere Sonne, aber nur sie ist uns so nah, dass sie uns wärmt und uns am Leben erhält. Auch wenn sie nicht das Zentrum unseres Universums ist, so ist sie doch das wichtigste und der einzige Stern den wir brauchen“. „Verdammt Atef!“, auch ich war jetzt aufgestanden, „du kannst nicht alles mit Himmelskörpern vergleichen. Die Anziehungskraft die ein Planet auf den anderen auswirkt ist immer gleich groß und niemals einseitig!“. Atef setzte sich: „Bitte, du weißt nicht mehr was du tust, du bist krank, lass mich dir doch helfen!“. Mein Körper verkrampfte sich und ich ging zur Tür: „Weißt du noch damals Atef, was wir gesagt haben: ‚Ich glaube an dich und du glaubst an mich.‘ Was ist davon noch übriggeblieben?“. Und ich verließ mein Büro.

Es war dunkel und Helena beschleunigte ihre Schritte. Ich versuchte an ihr dranzubleiben, doch mit meinem schmerzenden Knie war das leichter gesagt als getan. Ich keuchte, biss die Zähne zusammen und passte mich ihrem Tempo an. Eine Straße weiter fuhr ein Auto mit offenem Fenster vorbei. Dann war es wieder still. Endlich holte ich wieder auf. Ich griff in meine Tasche und spürte wie sich das Metall an meine Hand schmiegte.

„Du?“, ich war so wütend. Ich konnte es nicht fassen. „Wie konntest du mir das antun, nicht nur bei Helena, sondern auch bei den anderen?“ Atef war ein wenig zusammengezuckt, ob meiner lauten Stimme, stand jedoch kerzengerade vor mir: „Ich habe das für dich getan. Du warst nicht bereit, warst es nie. Es hätte niemals geklappt“. „Das glaubst du doch nicht wirklich, das ist so…“. Ich stockte. „Du, du, du bist auch in sie verliebt, oder?“. Atef wich keinen Schritt zurück, als ich langsam auf ihn zuging: „Siehst du es den immer noch nicht? Du bist zu klug um an mich zu glauben, das weißt du. Ich bin nur eine Ausrede für diejenigen Menschen, die sich ihre Schuld nicht selbst eingestehen können. Aber du weißt es besser, tief in dir drinnen weißt du, was für ein jämmerlicher kleiner Versager du doch bist. Ich, Du, Wir, egal, ein und dasselbe…“. Ich schlug ihm mitten ins Gesicht und der Spiegel zerbrach. Scherben fielen zu Boden, bohrten sich in meine Hand und Blut tropfte zu Boden.

Da war so viel Blut. Ich hielt Helena in meinen Armen und strich ihr sanft über das goldene Haar. Sie hatte die Augen geschlossen, atmete aber noch flach. Ich küsste sie auf den Mund und sie öffnete ihre Augen: „Bitte,… bitte,…“. Ich packte sie fester, hob ihren Kopf und zwang sie mir in die Augen zu sehen: „Das hier ist nicht das Ende, das ist erst der Anfang“. Und während in der Ferne die Sirenen immer näher kamen, glitten die beiden Schlüssel auf den schleimigen Boden.

„Kannst du endlich mal weiter gehen?“. Mir war nicht bewusst gewesen, dass ich mitten in der Tür stehen geblieben war, doch scheinbar hatte ich einen Moment gebraucht, um diesen letzten Schritt zu gehen. Ich schloss die Augen und dachte noch einmal nach, dann griff ich in meine Hosentasche und holte ihn hervor. Mit einem Schlag wusste ich es, das war die Antwort, nach der ich so lange gesucht hatte. Ich öffnete meine Hand und betrachtete für einen kurzen Moment den Schlüsselring, dann machte ich einen Schritt nach vorne, im vollen Bewusstsein die Universität zu verlassen und nie mehr zurückzublicken. Ich war angekommen, nun war es Zeit weiterzugehen.