Österreich hat gewählt, Kurz hat die Wahl

Eine Kurzanalyse der aktuellen politischen Situation in unserem Nachbarland.

Es heißt, man solle mit dem Begriff „historisch“ vorsichtig umgehen. Jedoch ist dessen Verwendung in Bezug auf das aktuelle politische Geschehen in Österreich praktisch unausweichlich. Zum ersten Mal in der Geschichte der Republik wurden am 27. Mai als Folge der Ibiza-Affäre und derer Nachwirkungen ein Kanzler und seine komplette Bundesregierung durch ein Misstrauensvotum des Nationalrats gestürzt. Im Gegensatz zum deutschen Pendant ist das Misstrauensvotum hier lediglich destruktiv konzipiert, sodass bei einer Abwahl nicht gleichzeitig ein neuer Kanzler mit seiner eigenen Mehrheit als Nachfolger bereitstehen muss. In diesem Artikel erfahrt ihr, welche Auswirkungen diese Besonderheit hat und wie es nach der Wahl weitergeht.

Eine überparteiliche Chefin

Aufgrund der verfassungsrechtlichen Situation wurden im ersten Schritt die verbliebenen Mitglieder der alten Bundesregierung unter Führung von Finanzminister Hartwig Löger (ÖVP) mit der einstweiligen Fortführung der Amtsgeschäfte betraut; die vakanten Posten wurden mit vier Experten besetzt. Am 30. Mai bekam die bisherige Präsidentin des Verwaltungsgerichtshofes Brigitte Bierlein von Bundespräsident Alexander Van der Bellen den Auftrag zur Bildung einer Übergangsregierung, die bis zur Angelobung einer neu gewählten Regierung die Geschäfte führen soll und am 3. Juni schließlich vereidigt wurde.

Damit ist Bierlein die erste Frau, die das Amt der Bundeskanzlerin bekleidet. Ein starkes Zeichen für das Land, das in diesen Tagen eine überparteiliche, ruhige und kompetente Führung benötigt. Während im Sommer der Wahlkampf bei unseren Alpennachbarn anrollte, der durch diverse Affären und Skandale auch als „Schmutzkübelwahlkampf“ tituliert wurde, konnte sich die neue Beamtenregierung, die paritätisch mit Frauen und Männern besetzt ist, großer Beliebtheit erfreuen. In einer Umfrage des Linzer Market-Instituts sagten Mitte Juli 56 Prozent der Befragten, dass die Regierung „alles in allem gut für Österreich“ sei. Dieser Wert ist deutlich höher als bei vorherigen Kabinetten. Auch von den Parlamentsklubs, wie die Fraktionen genannt werden, wird die Kanzlerin von links bis rechts insgesamt positiv aufgenommen.

Brigitte Bierlein bei der Angelobung durch Bundespräsident Alexander Van der Bellen am 3. Juni 2019 in der Wiener Hofburg
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Bundesministerium für Europa, Integration und ÄußeresDer Bundesminister für Europa, Integration und Äußeres (48000367028)CC BY 2.0

Von Wahlgewinnern und balearischen Klängen

„Die Wahl ist geschlagen“, hörte man am Wahlabend des Öfteren in den österreichischen Medien. Die Wahlbeteiligung lag laut Innenministerium bei 75,6 %. Damit sank sie, entgegen des aufsteigenden Trends bei der Europawahl im Mai, um rund vier Prozentpunkte und ist gleichzeitig der zweitniedrigste Wert in der Zweiten Republik. Auch wenn sich die diversen Prognosen im Vorfeld weitgehend gedeckt hatten, brachte die Abstimmung dennoch ein paar Überraschungen mit sich. Während zu erwarten war, dass die Volkspartei des jüngsten Altkanzlers Sebastian Kurz die meisten Stimmen holte, rechneten die wenigsten mit einem Ergebnis in der Größenordnung von herausragenden 37,5 %. Damit erreichte die ÖVP einen historischen Vorsprung und konnte mehr Wähler für sich gewinnen, als die beiden dahinter folgenden Partei, was ein Novum in Österreich darstellt.

Ebenfalls auf der Seite der Wahlsieger standen an diesem Abend die Grünen, die zwei Jahre nach ihrem Scheitern an der Vier-Prozent-Hürde und dem damit verbundenen Ausscheiden aus dem Nationalrat ein fulminantes Comeback feierten und mit dem charismatischen Spitzenkandidaten Werner Kogler sagenhafte 13,9 % erzielten. Auf der stimmungsvollen Wahlparty feierten die Grünen übrigens zu „We are going to Ibiza“ von den Vengaboys. Eine klare Anspielung auf die Geschehnisse, die überhaupt erst zu den vorgezogenen Neuwahlen geführt hatten.

Das Parlamentsgebäude in Wien: Sitz des Nationalrates und des Bundesrates
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Des einen Freud, des anderen Leid

Die Partei „Liste JETZT“ des Ex-Grünen Peter Pilz scheiterte dagegen wenig überraschend mit 1,9 % am Wiedereinzug in den Nationalrat. Dies lag vor allem daran, dass 40 Prozent der Personen, die bei der vorherigen Wahl JETZT gewählt hatten, diesmal ihr Kreuz bei den Grünen setzten. Ungefähr zu erwarten waren auch die ordentlichen 8,1 % der NEOS von Beate Meinl-Reisinger, welche sich über das beste Wahlergebnis, das eine liberale Partei im Land jemals hatte, sehr zufrieden zeigte.

Weniger zufrieden war allerdings die langjährige Kanzlerpartei SPÖ, die mit 21,7 % ihr historisch schlechtestes Ergebnis erreichte. Parteichefin Pamela Rendi-Wagner gab sich nach der Wahlschlappe aber zuversichtlich und rief ihren Anhängern mit geballten Fäusten den Satz „Die Richtung stimmt!“ zu. Während personelle Konsequenzen am Wahlabend noch ausgeschlossen wurden, bestand Bundesgeschäftsführer Thomas Drozda am Tag danach dann doch auf ebenjene und räumte seinen Posten.

Noch schlimmer als den Sozialdemokraten erging es jedoch dem bisherigen Koalitionspartner FPÖ von Parteiobmann Norbert Hofer. Gerade einmal zwei Wochen nach dessen Wahl zum Nachfolger des im Zuge der Ibiza-Affäre zurückgetretenen Heinz-Christian Strache, stürzte er mit den Freiheitlichen unerwartet deutlich ab. Aufgrund der fast zweistelligen Verluste erzielte die FPÖ lediglich 16,2 %, was den ursprünglich anvisierten zweiten Platz unmöglich machte.

Endgültiges Endergebnis der Nationalratswahl 2019
Daten: Bundesministerium für Inneres
© Thomas Koristka

Türkise Farbenspiele

Wie zu erwarten erteilte Bundespräsident Van der Bellen gut eine Woche nach der Wahl dem alten und mutmaßlich neuen Kanzler Sebastian Kurz den Auftrag zur Regierungsbildung. Folgende Koalitionen sind denkbar: Eine Neuauflage der türkis-blauen Regierung, eine traditionelle schwarz-rote (Hinweis: Die ÖVP hat im Zuge der Nationalratswahl 2017 ihre Parteifarbe von schwarz zu türkis geändert), oder ein Bündnis der Wahlgewinner, zusammen mit den Grünen. Auch eine Beteiligung der NEOS wäre möglich, aber nur in einer Dreierkonstellation.

Der Politikwissenschaftler Peter Filzmaier glaubt, dass sich Kurz Zeit lassen werde, da alle Koalitionsvarianten „etwas herausfordernder“ seien. Im Schnitt dauern Verhandlungen 60,7 Tage. Hielte er sich daran, dann hätte Österreich kurz vor dem ersten Advent eine neue Regierung. Mit wem auch immer er sie bilden wird; einen Teil seiner Wählerschaft enttäusche er damit unweigerlich, so Filzmaier. Die möglichen Partner liegen inhaltlich weit auseinander. Zudem belasten Skandale oder persönliche Differenzen potentielle Verbündete.

ÖVP-Chef und Altkanzler Sebastian Kurz
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Rat Brüssel. Bundesminister Sebastian Kurz. Pressekonferenz. Brüssel. 12.12.2016,
Bundesministerium für Europa, Integration und ÄußeresRat BrüsselCC BY 2.0

Die Österreicherinnen und Österreicher erleben derzeit sehr aufregende politische Zeiten. Angesichts der Konstellation infolge der historischen Ereignisse in unserem Nachbarland gibt es kaum eine Wendung, die die aktuelle Situation besser beschreibt, als „Kurz hat die Qual der Wahl.“ Es wird spannend zu beobachten sein, ob nach dem Platzen des italienischen Kabinetts nun im nächsten Land Rechtspopulisten aus der Regierungsverantwortung ausscheiden oder nicht.