Ode an die Freude

Die alten Griechen kannten es, ebenso die alten Römer und Ägypter. Im Mittelalter erlernten vor allem Adelige, Reiche und Geistliche diese Fähigkeit. Sie ermöglicht Austausch, Kommunikation und kann zu großartigen Dingen wie Frieden, aber auch zu schrecklichen Ereignissen wie Krieg führen. Wer sie nicht beherrscht ist abhängig von anderen. Trotzdem gibt es erschreckend viele Menschen, die sich ohne sie durchs Leben schlagen.

© Fabienne Dorsch

Zugegeben, das Ganze hört sich geheimnisvoll an, fast wie aus einem Märchen und aus vergangener Zeit. Die Rede ist aber von etwas so Ordinären, etwas, was heute schon kleine Kinder in der Grundschule mühsam erlernen. Wer es hier nicht regelmäßig trainiert, wird gefördert, zur Verbesserung ermutigt, angehalten nicht aufzugeben. Schlägt das Erlernen der Fähigkeit in diesen ersten Jahren fehl, wird es schwierig diese Defizite später wieder auszugleichen. Hier bewährt sich das alte Sprichwort: „Des einen Freud ist des anderen Leid“. Auf keine andere menschliche Fähigkeit passt dieses Sprichwort so gut wie auf diese. Sie ist uns allen wohl bekannt und du wendest sie auch gerade an: Die Rede ist vom Lesen.

Die Meinungen zum Lesen könnten unterschiedlicher nicht sein. Dem einen schießt sofort „langweilig“ in den Kopf, dem anderen ist es zu altmodisch, zu langwierig. Wofür gibt es sonst Fernsehen, YouTube und Co? Diese Positionen sind nur zu verständlich. Wer Jahr um Jahr von Eltern und Lehrern zum Lesen genötigt wird, verliert irgendwann die Lust daran . Vor allem alte Texte von Schiller, Goethe oder noch schlimmer Sophokles kommen den leidgeplagten Schülern da in den Sinn.

Und dann gibt es noch andere Leute, Leute wie mich. Diese Leute schätzen einen guten Krimi sehr. Oder einen guten historischen Roman. Oder alles andere mit Buchstaben was auf Papier gedruckt worden ist (wobei ich hier für mich die Werke von Sophokles ausklammere).

Für diese Leute spreche ich, wenn ich sage: Lesen kann eine Sucht sein. Ähnlich wie Schokolade, Rauchen oder Netflix. Diese Beispiele wirken freilich wie wild aus der Luft gegriffen, aber wenn wir uns das Lesen näher anschauen, können wir eindeutig Parallelen zu anderen Tätigkeiten finden.

Nehmen wir Netflix. Wer kennt es nicht? Samstagmittag, Samstagabend, Samstagnacht – ach es kann auch unter der Woche sein: Binge-Watching ist angesagt. Wir alle waren sicherlich schon einmal so von einer Serie gepackt, dass wir immer weiter schauen wollten. Nur noch eine Folge – nur noch bis zum Staffelende – die größten Lügen, die sich Netflixnutzer selbst erzählen. Aber die Story der Protagonisten in unseren Serien packt uns einfach, wir wollen wissen, wie es weitergeht. Wird Jasons Mörder geschnappt? Darf Sabrina ihre Freunde nie wiedersehen? Und was soll diese On-Off-Beziehung zwischen Penny und Lennard?

Was viele nicht wissen: Lesen kann genau den selben Effekt auf euch haben. Wenn ein Roman wirklich gut geschrieben ist, kann er dich schon nach den ersten Seiten packen. Manche Bücher müssen erst Spannung aufbauen, andere verlieren an Spannung, finden sie wieder und überraschen dich mit einem Ende, das du niemals erwartet hättest. Ganz genau wie eine Serie.

Natürlich ist es nicht ganz dasselbe. Zum Lesen musst du deine Fantasie gebrauchen. Kein stumpfes Binge-Watching, bei dem du die bewegten Bilder einfach willig auf deinen Kopf einprasseln lässt. Du musst dir vorstellen, wie der Protagonist deines Romans aussieht. Deiner Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Groß, klein, dick, dünn, mit oder ohne Buckel. All das bleibt ganz dir überlassen. Natürlich vorausgesetzt der Autor überlässt dir genug Interpretations- und Vorstellungsraum, allerdings beschreiben die wenigsten Verfasser ihre Charaktere innerlich und äußerlich bis ins kleinste Detail.

Ein weiterer Vorteil: Du hast viel mehr von deinem Buch. Dieser Punkt ist so offensichtlich, dass er angesprochen werden muss. Deine Serienepisode ist begrenzt, meist auf 20, 30 oder 45 Minuten. Dein Buch allerdings passt sich ganz dir an. Du kannst schnell lesen, du kannst langsam lesen, du kannst nochmal zurückblättern und nachschauen, was dir gerade entfallen ist. Und wenn du nicht aufpasst sind eine, zwei oder sogar noch mehr Stunden schneller vorbei, als du schauen kannst. Auch hier taucht wieder die große Lüge auf: Ich lese nur noch die paar Seiten, nur noch bis zum Kapitelende! Wie geht es weiter mit Matthew Shardlake? Wer war der Mörder vom kleinen Ralph? Ist Elisabeth wirklich geistesgestört oder spielt sie allen nur etwas vor? Fragen über Fragen.

Nebenbei kannst du auch noch deine Grammatik verbessern, deinen Wortschatz ausbauen und hast damit auch im Studium nur Vorteile. Eine meiner eindrücklichsten Erfahrungen: ich sitze in der 13. Klasse FOS im Deutschunterricht. Wir lesen einen uralten Text. Darin das Wort Kleinod. Der Lehrer fragt, was das bedeutet. Ich schaue mich um, keiner meldet sich. Ich hebe die Hand und beantworte die Frage. Du wirst dich jetzt fragen, warum ich dir diese Geschichte erzähle, will ich nur angeben wie schlau ich bin? Aber jetzt kommt der Plottwist. Ich kenne diesen Begriff nicht, weil ich hobbymäßig Gedichte aus dem Mittelalter lese und alle Texte von Goethe und Schiller auswendig kann. Ich kenne das Wort aus einem Comic, welches ich früher regelmäßig gelesen habe. Was ich damit sagen möchte ist folgendes:

Es ist egal was du liest. Es ist egal wo du liest und es ist egal wie oft du liest. Die Hauptsache ist, dass du liest. Und wer weiß, vielleicht profitierst du einmal von Donald Duck und einer Ausgabe des Lustigen Taschenbuchs, weil du in deiner Klausur das Wort „Kleinod“ kennst.