The Show Must Go On – Ein Hauch Nostalgie im Autokino Augsburg

© Simon Horndasch
© Simon Horndasch

Ein Freitagabend im Auto. Zugegeben, es gibt aufregendere Orte, an denen ich mich aufhalten könnte, aber heute ist das der Ausgangs- und Endpunkt meiner Geschichte. Gemeinsam mit meiner Freundin stehe ich im VW Polo auf einem Parkplatz hinter dem Festplatz Gersthofen. Hier wird später Queen zu Gast und der Platz voll sein. Was, ohne Oscarpreisträger Rami Malek und dem von ihm gespielten Freddie Mercury zu nahe zu treten, vermutlich nicht an Bohemian Rhapsody liegt. Das ist der Film, der heute hier läuft. Eigentlich strömten für Mercury und seine Band Queen bereits 2018 über 3,8 Millionen Besucher*innen in die deutschen Kinos. Da aber aufgrund der Pandemie momentan keine neuen Filme starten, erhält die Queen-Biografie heute noch einmal eine große Bühne. Ich bin aber nicht nur wegen dem Film hier. Vor allem will ich wissen, ob sich ein Abend im Autokino lohnt und ob etwas dran ist an der Autokino-Nostalgie. Schuld an ihr sind Filmklassiker wie Grease. Da knutschen Teenager in prächtigen Oldtimern vor flackernden Leinwänden. Autokinos standen sinnbildlich für den American Way of Live. In Zeiten von Corona erscheint dieser kaum noch erstrebenswert. Ist das Autokino also nur ein leeres Versprechen oder eine Zeitkapsel in die 80er und die Jugend unserer Eltern?

© Simon Horndasch 
© Simon Horndasch

Der Fleck auf der Scheibe

Aus diesem Grund bin ich hier. Viel zu früh. Der Festplatz ist noch leer. In allem Eifer stehen wir bereits um halb acht auf dem Parkplatz. Vor uns die Rückseite der Leinwand und ein paar Ordner*innen, die sich in der Mitte des Platzes in aller Ruhe unterhalten (mit Mundschutz versteht sich). Zeit, um die Situation zu rekapitulieren. Das Auto ist voll. Auf der Rückbank stapeln sich Decken und Kissen. Zwischen meinen Füßen zwei große Sushiboxen. Die Getränkehalter sind bestückt und irgendwo zwischen Schaltknüppel und Armaturenbrett versteckt sich eine Chipspackung. Wir sind vorbereitet. Damit dem Wohnzimmerflair nichts im Weg steht, muss ein Abend im Autokino geplant sein. Und Leute eins steht über allem, putzt eure Scheiben! Ihr glaubt nicht, wie uninteressant Freddie Mercury wird, sobald ihr diese eine langgezogene Schliere auf der Frontscheibe entdeckt. Die Brillenträger*innen unter euch werden mich verstehen.

Deutschland deine Autokinos

Auf dem Gelände wirkt alles etwas improvisiert und dann doch ziemlich professionell. An Einweiser*innen fehlt es nicht. Jedes Auto wird in seine Parkposition begleitet. Der Festplatz wird so ideal ausgenutzt. Dank unserer frühen Ankunft gehören wir beim Einlassen den Ersten an und haben Glück. Große Autos müssen nach hinten. Mit dem Polo erhalten wir einen Platz in der ersten Reihe, leicht links der Leinwand. In der ehemals beliebten letzten Reihe, der sogenannten Love Line, will heute kaum jemand stehen. Früher hatten die Wagen noch durchgehende Vordersitze und so wurde die Love Line zur einzigen Reihe ohne neugierige Blicke (zumindest reden sich das unsere Eltern ein). Als die Autoindustrie in den 70er-Jahren dann auf getrennte Sitze umstellte, verloren auch Autokinos an ihrem Charme. Seitdem waren sie verstaubte Kultstätten heimlicher Outdoor-Romanzen, bis sie in diesen Tagen ihre Renaissance erleben.

Deutschland deine Autokinos: Gravenbruch, Kornwestheim, Aschheim, Porz… und jetzt Gersthofen. Die Nachfrage ist so groß wie lange nicht mehr, denn dem Autokino sei Dank, kommen Filmbegeisterte trotz Pandemie auf ihre Kosten. Wo es vor Corona noch keine Autokinos gab, schießen sie aus dem Boden und verwandeln die Provinz zum Epizentrum der deutschen Filmlandschaft. So auch in Augsburg. Hier verlagern gleich zwei Augsburger Programmkinos ihre Leinwände ins Freie. Während das Liliom bereits seit dem 27. Mai auf dem Festplatz Gersthofen Autofahrer*innen zum Freiluftkino empfängt, zieht das Kinodreieck ab Dienstag, den 9. Juni, nach und öffnet zum Messeflimmern die Schranken des Messegeländes.

© Simon Horndasch 
© Simon Horndasch

Das lange Warten

Langsam füllt sich der Festplatz. Die Stimmung scheint feierlich, endlich ein Hauch von „Normalität“. Familien mit Kindern, verliebte Paare, beste Freund*innen. Endlich wieder unter Menschen. Endlich wieder Großveranstaltung – zumindest fast. Die Abstandsregeln werden eingehalten. Jeder ist in seinem Auto. Rechts von uns steht ein Familienvater, der während seine Kinder auf der Rückbank umhertollen, konzentriert die Tageszeitung aufschlägt. Auf der anderen Seite zaubert ein turtelndes Paar Champagner-Gläser und Kuchen hervor (auch sie scheinen vorbereitet). Mittlerweile tummeln sich Smarts, Cabrios und Touaregs auf dem Platz. Alle starren über ihr Lenkrad hinweg auf die riesige Leinwand. Da passiert aber erstmal nichts. Angekündigt war der Filmbeginn auf 20:45 Uhr. Stattdessen bleibt die Leinwand dunkel. Na ja, dunkel ist sie nicht. Genau das ist das Problem. Es ist einfach noch zu hell. Die Sonne lässt sich Zeit mit dem Untergehen und so warten wir bis 21:30 Uhr geduldig vor einer weißen Leinwand, bis dann… die Werbung beginnt. Immerhin ist sie recht unterhaltsam. Man sieht Michael Wörle, den Bürgermeister von Gersthofen, wie er seinen Kopf aus einem Autofenster reckt und das neu entstandene Kino auf dem Festplatz anpreist. Im selben Imagefilm wird das Autokino Gersthofen dann noch als „das Kulturevent in Schwaben“ betitelt. Ich frage mich, ob das Messeflimmern ähnliches von sich behauptet.

Der Imagefilm endet und wir sehen erneut nichts. Die Leinwand bleibt weiß und wir schlagen die Zeit tot, indem wir endlich unser Sushi in Angriff nehmen. Eigentlich wollten wir bis Filmbeginn warten, aber das halten wir nicht mehr aus. Sushi eignet sich super fürs Autokino, wenn da nicht diese Sojasoße wäre. Einmal nicht aufgepasst und schon ist es passiert. Der Geruch der Soße in den Sitzen ist penetrant und beschäftigt uns erstmal eine Weile. Bis um 21:45 Uhr, eine Stunde nach eigentlichem Start, das lange Warten endet und der Film doch noch beginnt.

© Simon Horndasch 
© Simon Horndasch

Ein Film für die Ohren

Bohemian Rhapsody ist eine bildgewaltige Filmbiografie über den Paradiesvogel Freddie Mercury und seine Band Queen. Ich muss gestehen, dass ich den Film schon einmal gesehen habe. Im Bett liegend, auf dem Laptop. Nicht gerade ehrerweisend für ein oscarprämiertes Biopic. Daher gebe ich dem Film noch eine Chance. Beim ersten Mal war ich doch etwas enttäuscht (was wahrscheinlich auch am mäßigen Ton des Laptops lag). Heute tausche ich daher den Laptopbildschirm gegen die riesige Leinwand und die Laptopboxen gegen das Autoradio, das den wummernden Bässen hoffentlich standhält. Ich spreche den Radioboxen des Polos noch einmal Mut zu. Über die UKW-Frequenz 102,8 MHz gibt es dann die Hits von Queen. Ein Film für die Ohren. Der Ton ist gut. Ob das jetzt an Queen oder am soliden Autoradio liegt, sei mal dahingestellt. Immerhin hat der Film 2019 den Oscar für den besten Ton erhalten. Mit vier Academy Awards war er der Gewinner des Abends. Darunter auch ein Oscar für den besten Schnitt. Vor Kritik hat ihn das nicht geschützt. Es gibt ein Video auf YouTube, das den Schnitt des Films in 13 Minuten in der Luft zerpflückt. 2,6 Millionen Menschen haben sich das bislang angesehen. Auch ich hadere mit dem Schnitt. Aber zum Glück ist da noch mehr, was den Film ausmacht und so lasse ich mich, den Schnitt ignorierend, auf den Film ein.

Während ich den Beat von Another One Bites The Dust mit meinen Fingerkuppen in das Armaturenbrett klopfe, muss ich mir eingestehen, dass ich Spaß habe. Der Film unterhält mich. In einem Höllentempo hakt er Meilensteine der Bandgeschichte ab. Bandgründung, kometenhafter Aufstieg, legendäre Aufnahmesessions von Welthits, Paradiesvogel Mercury, dessen verruchte Eskapaden und das große Finale müssen erst einmal alle in dem zweieinhalbstündigen Band-Epos zusammengerafft werden. Das funktioniert deutlich besser als ich es noch vom ersten Mal auf dem Laptop in Erinnerung habe.

© Simon Horndasch 
© Simon Horndasch

Dicke Luft

Wenn mich doch mal das Schnittgewitter stört, ich nicht fassen kann, wie gut Rami Malek schauspielert oder lauthals in We Will Rock You einstimme. Raus damit. Niemand hört mich. Wir sind in unserem Auto – unserem Mikrokosmos. Gezwungenes Flüstern oder extra leises Popcornknabbern fordert hier niemand. Wenn ihr auf Kissen gepolstert und in Decken eingemummelt, im nach hinten gestellten Sitz, dem Spektakel auf der Leinwand folgt, wird jedes Auto zur Wohlfühloase. Gestört werdet ihr zwischendurch nur von den aufblitzenden Scheinwerfern einiger Fahrer*innen, wenn diese die Zündung einschalten, um die Fenster zu öffnen. Denn auch wenn ihr denkt das Kinoerlebnis könnte nicht besser werden, die Luft im Auto könnte es. Deshalb macht die Fenster von Beginn an einen Spalt breit auf. Eurer Kissen- und Deckenlager wärmt euch auch in kalten Nächten.

Last Man Standing

Unter dem Deckenmeer liegend, fühle ich mich zurückversetzt in die Zeit, in der man im Kinderzimmer Höhlen baute und in ihnen in eine andere Welt verschwand. Obwohl der Film recht aktuell ist und auch sonst kein Retro-Charme aufzukommen droht, fühlt sich das Auto an wie eine Zeitkapsel. Wer erlebt heutzutage Filme noch auf diese Art und Weise. Normalerweise blicken wir im Bett lungernd auf unsere Laptops und vertrauen dem Netflix-Algorithmus, dass er uns einen passenden Titel vorschlägt. Das Kino kennen wir nur noch flüchtig. Warum 10 Euro für ein Ticket zahlen, wenn wir während dem Film nicht mal die neusten Insta-Stories checken können. Es braucht eine Pandemie damit wir Wochen lang vor unseren Bildschirmen liegend auf die Idee kommen als Zeitvertreib deutschlandweit Leinwände aufzustellen, um erneut auf Bildschirme zu schauen – jetzt halt im Freien.

Es ist ein Paradox. Früher florierte die Kinobranche und das Autokino galt als aussterbende Art, der man peinlich berührt eine Gnadenfrist auf dem Friedhof der Unterhaltungsbranche gewährte. Heute kämpft das Autokino als Last Man Standing gegen die allesfressenden Streaming-Monster Netflix und Amazon. Und bald könnte sich das Blatt schon wieder wenden. Dann nämlich, wenn die Kinos weltweit wieder öffnen dürfen. The Show Must Go On. In Bayern ist es ab dem 15. Juni so weit. Zwar vorerst mit maximal 50 Personen pro Vorführung und unter strengen Auflagen, aber die Frage bleibt, ob dann überhaupt noch wer ins Autokino geht. Ich frage mich, ob so ein Abend auch ohne Pandemie ein Erlebnis ist. Wäre der Festplatz auch dann voll, weil sich das Autokino schließlich als Sommerhit erweist oder verschwindet der Hype um die Freilichtstätten genauso schnell, wie er gekommen ist? Wir haben es in der Hand.

© Simon Horndasch 
© Simon Horndasch

Der Abschied

Der Abspann läuft und die Lichter gehen an. Nicht wie üblich im Kinosaal, sondern in den Autos. Die Scheinwerfer leuchten auf und die Motoren erwachen zum Leben. Wir werfen Decken und Kissen auf die Rückbank und fahren los. Wie wir losrollen, beschleicht uns das Gefühl etwas vergessen zu haben. Zu schnell, zu einfach und unkompliziert ist der Aufbruch. Wo ich im Kino nach dem Aufstehen noch einmal meinen Sitz checke, ob ich nicht doch etwas vergessen habe und nach Geldbeutel und Handy in meinen Hosentaschen taste, drehen wir hier einfach den Zündschlüssel um. Es gibt nichts zum Vergessen. Alles ist im Auto und so verabschieden wir uns als der Zeiger auf 0:00 Uhr umschlägt in die Nacht und treten die Heimfahrt an.

Ein Freitagabend im Auto? Er lohnt sich. Egal ob mit oder ohne Pandemie. Wenn ihr die Möglichkeit habt, schaut bei einem der Augsburger Autokinos vorbei. Macht euch einen eigenen Eindruck wie es ist. Ich habe sie genossen, die Reise mit der Zeitkapsel. Auch wenn das Autokino wieder in Vergessenheit geraten sollte, erinnere ich mich gerne an meine Reise zurück in der Zeit. In die Zeit einer Pandemie, als wir unser Wohnzimmer ins Auto verlagerten und in lauen Sommernächten vor flackernden Leinwänden parkten.

3 thoughts on “The Show Must Go On – Ein Hauch Nostalgie im Autokino Augsburg”

  1. Lieber Simon,
    jetzt hast du mir richtig Lust auf Autokino gemacht! Ich werde demnächst – gut vorbereitet mit Decken, Essen u Getränken – meinen 1. Autokinobesuch anpeilen. Vielen Dank für deinen Pressetext zum Kinoabend. LG Christiane

  2. Ein lebendiger Artikel, der einen Hauch von Nostalgie beschreibt. Beim Lesen kommen Erinnerungen an längst vergessene Autokino-Besuche hoch — in Kornwestheim. Der Film, Bohemian Rhapsody, ist auch aus meiner Sicht absolut sehenswert. Inzwischen wohl ein echter Klassiker. Die Legende Queen & Mercury versetzt wohl auch die jüngeren Generationen in eine andere Welt.

    Danke für Deine Zeilen und die damit verbundenen Erinnerungen, Simon.

  3. Ein authentischer Ausflug im Viertürer.

    Ein Ausflug in die Gefühlswelt eines genauen Beobachters und eines noch besseren Beschreibers. Von der Essensauswahl eines Genießers bishin zur inspirierenden Idee auch mal wieder eine Reise zurück in die Zeit zu wagen. Danke für die Inspiration und die Ermutigung getrost die bequemen vier Wände zu verlassen.

Schreibe einen Kommentar