Spielplatz der Namenlosen

Das Forum 4chan.org gilt als anarchische Ecke des Internets, Heimat der Bewegung Anonymous und Wiege diverser Internettrends. Wie viel Wahrheit steckt hinter dem Mythos? Eine Erkundungstour.

4chan
Text: Michael Müller, Illustration: Natalia Sanderson

Die Reise in einen der Hinterhöfe des Internets beginnt an einem Freitagabend. Das fahle Licht des Bildschirms leuchtet meine Wohnung aus, als ich kurz nach elf zum ersten Mal in meinem Netzleben die Seite 4chan.org aufrufe. Viele Leute, mit denen ich in den letzten Wochen für presstige über Internet-Trends sprechen wollte, verwiesen mich auf dieses Forum. Es soll, wenn auch unbekannt, eine wichtige Rolle dabei spielen, welche Clips und Bilder den Sprung vom Gag zum Hype im Web schaffen.

Der erste Eindruck verrät diese Bedeutung nicht. 4chan sieht noch sehr nach jenem alten Web 1.0 aus, das mehr zum Beobachten als zum Mitmachen geeignet war. Die Startseite enthält kaum mehr als eine Auflistung der Unterforen. Das populärste von ihnen und für viele synonym mit 4chan ist /b/, dessen Thema schlicht “Random” lautet. Nirgendwo auf der Seite wird mehr gepostet als hier, finden sich mehr Tabubrüche, aber auch mehr Beiträge, die das Potenzial haben ein Mem zu werden.

Meme sind meist kleine Gags, die sich durch Kommunikation massenhaft verbreiten. Dabei sind sie umso erfolgreicher, je einprägsamer und leichter sie zu verbreiten sind. Über große Aufmerksamkeit können sie sich ins kollektive Bewusstsein der Internetgemeinde einbrennen, doch irgendwo müssen sie geboren werden. Ein Ort, an dem spätere Meme immer wieder zum ersten Mal auftauchen, ist dieses Forum.

Schwerpunkt: Internet

Auch wenn wir es mit der NSA und anderen Datensammlern teilen müssen: Das Internet bleibt unser Zuhause. Wir essen und schlafen vorläufig noch analog, aber sonst findet unser Leben zunehmend im Netz statt. Darum widmet die presstige-Redaktion dem Internet einen Schwerpunkt. Alle bisher erschienenen Beiträge sind hier gesammelt.

Von seinen Usern wird das Forum als Hort von Kreativität, Witz und Freiheit beschrieben, doch an der Pforte zu /b/ erwartet mich zunächst ein Disclaimer. Demnach handele es sich um eine Seite ausschließlich für Erwachsene und hafte der Betreiber für keinerlei Schäden, zu denen ein Besuch des Boards führen kann. Auch wenn eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber standardisierten Geschäftsbedingungen oder Warnungen eine fast übliche Nebenwirkung des Internets darstellt, wird mir hier bereits zum ersten Mal mulmig. Das hängt mit den Mythen zusammen, die sich um 4chan weben.

Hier kann jeder Beiträge verfassen, ohne sich registrieren zu müssen, weshalb alle Autoren unter “Anonymous” firmieren. Das macht die Seite zu einem der Geburtsorte der gleichnamigen Bewegung. Also kann am anderen Ende der Leitung immer eine Person sitzen, die technisch fähig ist, beträchtliche Schäden anzurichten. Die “Rules of the Internet“, eine Art Kodex der Aktivisten, legen dies auch nahe.

Geburtsort von Anonymous

Dort bezeichnet sich “Anonymous” als teilweise furchtbares, gefühl- und rücksichtsloses Monster, das niemals vergebe. Eine andere wichtige Regel, niemals über /b/ zu sprechen, plane ich zudem gerade zu brechen. In Verbindung mit allem, was ich über Cyberattacken der Gruppe im Laufe der letzten Jahre gehört habe, traue ich mich nicht am Disclaimer vorbei, bevor ich mehr über all das weiß, was mich dahinter erwartet.

Das Internet ist voller Bezüge zur 2003 gegründeten Community. Dabei stößt man vor allem auf relativ drastische Provokationen, die von ihren Usern ausgehen. Alle Aktionen, welche den eingegrenzten Bereich des Forums verlassen, werden dabei als raids, Überfälle, bezeichnet. Opfer kann dabei potenziell jeder werden. Angriffe auf die Internetkultur, oder gar direkt auf Anonymous oder 4chan, werden gerne zu einem Mem auf Kosten des Urhebers verarbeitet. Prominentestes Beispiel ist ein offensiver Beitrag des US-Senders Fox News, der die Aktivisten als “Hacker auf Steroiden” bezeichnet.Genauso hat es aber auch Angriffe auf öffentliche Plattformen oder die Accounts von Privatpersonen gegeben, die das Internet zuvor nur für alltägliche Aktivitäten genutzt haben.

Screen 1

Viele solcher Angriffe, von gehäuften Drohanrufen über Spam-Attacken bis hin dazu, ganze Server lahmzulegen, sind über 4chan koordiniert worden. Die Encyclopedia Dramatica, so etwas wie eine von den Usern selbst angelegte Chronik des Forums, dokumentiert neben allen anderem, was auf 4chan geschieht auch diese Angriffe und deren Erfolg. Der einzige Zweck, den dieser Teil von Anonymous mit ihnen verfolgt, liegt darin, innerhalb der Gemeinschaft selbst möglichst viele Lulz zu erzielen, also einen Scherz zu machen, der besonders gut ankommt.

Der Humor in /b/ ist ohnehin mehr als gewöhnungsbedürftig, was viele Besucher schnell wieder vertreibt. Nach Aussagen des Gründers ist 4chan aus Langweile entstanden, die auch seine Nutzer zu vertreiben suchen. Dabei entstehen durchaus auch Witze, die außerhalb des Boards Beachtung finden, doch vieles ertrinkt in Frauenfeindlichkeit, Rassismus oder dem Bruch anderer sozialer Tabus. Schlagende Erfolge außerhalb des Forums werden nur unverfänglichere Ideen, wie die lolcats, um witzige Kommentare angereicherte Katzenbilder.

Eine halbe Milliarde Posts

4chan scheint also eine eigene Welt, die ich, wen überhaupt, nur verstehen werde, wenn ich sie betrete. Seine explosive Mischung aus Kreativität und Rücksichtslosigkeit lässt mich den zweiten Versuch jedoch lieber von einem Internetcafé aus in Angriff nehmen. Die Atmopshäre ist dabei vergleichbar mit dem oben erwähnten Freitagabend. Durch das kleine Fenster des Raumes fällt an einem Regennachmittag kaum Licht hinein, weshalb der Raum hauptsächlich vom blauen Flimmern der Computerbildschirme beleuchtet wird.

Durch einen Klick überspringe ich den Disclaimer und lande: im Chaos. Die einfache optische Struktur bleibt bestehen, nur dass nun unzählige, zumeist mit Bildern versehene Beiträge der User in einer schier endlosen Reihung angezeigt werden. Die Anzahl der Posts in /b/ liegt über 523 Millionen. Dabei hat 4chan eine begrenzte Kapazität, weshalb jeder neue Post den ältesten verdrängt, wobei einige User das Verfallene an anderer Stelle archivieren. Der Ansturm neuer Einträgen ist immens. Bei jedem Reload hat sich etwas geändert, selbst wenn nur kurze Zeit vergangen ist. Kommentare sind oft in einem nahezu unverständlichen Slang verfasst und umfassen häufig nicht mehr als wenige Worte. Zum Beispiel antwortet ein User auf das Foto ein jungen Frau schlicht mit “worth a fap”. Das ist noch einer der einfachen Fälle, weil man sich hier noch denken kann, was es wohl heißen soll.

Vieles Verständliche ist vulgär und stark sexualisiert. Neben Bildern nackter Frauen oder Fragen nach Tipps, wie man bei einem Mädchen landen könne, betiteln User einander beispielsweise meistens als fags (“Schwuchteln”) oder “/b/tards”. Trotz dieser Auffälligkeiten erscheint mir /b/ jedoch vor allem unübersichtlich und irgendwie anarchisch. Es werden dort genauso Best-of Listen erstellt, Verschwörungstheorien aufgegriffen, oder einfach nur um Zerstreuung gebeten, da man gerade krank im Bett liege.

Screen 2

Das Chaos und die hohe Aktualität entfalten schnell eine starke Sogwirkung. Nach einer halben Stunde beginne ich zu glauben, dass hier vielleicht wirklich Trends entstehen können und blättere mich durch seitenweise Einträge, in der Hoffnung, einen als erster zu erkennen. Später fange ich an, im Minutentakt die Startseite des Unterforums zu aktualisieren. Alles ohne Erfolg.

Vom Hinterhof zurück in die Sonne

Wahrscheinlich würde mir im schrillen Durcheinander von /b/ eine solche Rarität auch überhaupt nicht auffallen. Ich finde keinen Beitrag, dessen Resonanz über zwei bis drei (meist beleidigende) Kommentare hinaus ginge. Ein neuer Trend müsste hunderte Reaktionen hervorrufen, bis er wohl von Usern auf weiteren Umschlagplätze im Netz wie reddit.com verbreitet würde. Nur so erhält das Mem genügend Aufmerksamkeit, um auch von Google oder anderen Giganten verbreitet und damit Phänomen des gesamten Internets zu werden.

Schnell weicht die Faszination also der ernüchternden Erkenntnis, das man wohl nennenswerte Teile seines Lebens in 4chan verbringen muss, um sich in den wirren Dialog der User wirklich einbringen zu können – oder ihn auch nur zu verstehen.

Nach drei Stunden beschließe ich, in Zukunft den Hinterhof des Internets besser wieder gegen seine sonnigen Boulevards einzutauschen. Die Frau an der Kasse des Internetcafés lächelt, als ich meine Reisekosten begleiche.

1 thought on “Spielplatz der Namenlosen”

  1. Pingback: Illustrating a magazine | by Natalia Sander

Schreibe einen Kommentar