Die Dialektik in der Menschlichkeit – ein Essay der Gedankenspiele

Da sich zur Zeit alle Welt über Semantik aufregt und mit linguistischen Kunststücken liebäugelt, statte ich diesem Trend jetzt auch mal einen Besuch ab, verbringe einen netten Abend mit ihm und schütte ihm was ins Glas. Kommen wir gleich zur Sache.

Die Kategorisierung von Fremd- und Eigenverhalten in gut und schlecht, moralisch wertvoll oder verwerflich et cetera ist elementar für den Menschen, der Zeit seines Lebens in Bergspitzen und Lochböden zu denken vermag, ohne allzu viel Aufmerksamkeit an Steigungen und Gefälle zu vergeuden. These und Antithese, Pro versus Contra, Positiv zum Negativ, bla bla bla; zum größten Teil sind diese Einordnungen genauso uninteressant, wie sie subjektiv sind.

Es gibt allerdings ein Negativ, das mich stört, seitdem ich das Denken erlernte: „unmenschlich“, genauer, der fahrlässige Gebrauch dieses Begriffes.

Eric Harris und Dylan Klebold bekommen häufig die zweifelhafte Medaille dieses Begriffes umgehängt, ebenso Elliot Rodgers und Adam Lanza. Für Josef Stalin und Adolf Hitler fahren manche sogar noch größere Geschütze auf, identifizieren sie als „Inkarnation des Bösen“ und sprechen Ihnen jedwede Menschlichkeit ab. Im Hinblick auf die Gräueltaten, die diese sechs Männer verübt haben, durchaus verständlich, das gebe ich zu – aber unüberlegt.

Hass, Mord und Genozid sind nicht die feine Art, klare Sache, keine Debatte notwendig. Aber sind sie unmenschlich? Ich weiß nicht so recht.

„Unmenschliche Taten“, wie sie genannt werden, werden zu 100% von Menschen verübt. In den ersten 46 Wochen des Jahres 2019 gab es in den Vereinigten Staaten 45 School Shootings. Hitler und Stalin hatten beide einen Staatsapparat voller Menschen, die hinter ihnen standen, Soldaten, die ihren Befehlen gehorchten, sie ausführten, für ihr Oberhaupt hassten und mordeten. Die Teilnehmer des Milgram- und des Standford-Prison-Experiments zeigten alle Verhaltensmuster, die in realer Situation juristische Folgen und soziale Ächtung nach sich gezogen hätten. Sollen all diese Menschen keine Menschlichkeit besessen haben? Und falls ja, wie viele von uns sind menschlich, wenn moralisch verwerfliches oder antisoziales Verhalten als unmenschlich gilt?

Wenn wir Diagnosen von Unmenschlichkeit und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhängen, verschleiert das unseren Blick darauf, was menschlich ist. Wir verfälschen unser eigenes Bild, kaschieren Stellen, die uns nicht gefallen, löschen sie aus, begraben sie. Wir vergessen. Ich kann verstehen, dass man nicht auf derselben Stufe wie die Menschen stehen will, die zu solch abartigen Taten imstande waren, dass man nicht über sie nachdenken will und dass die Grausamkeit der Realität einen in Schockstarre und Beschreibungsnot bringt; das alles ist nachvollziehbar. Es sollte uns jedoch nicht dazu bringen, uns der Tatsache zu verschließen, dass die Akteure Menschen waren.

Statt die Tatsachen zu vergraben, sollten wir versuchen, aus ihnen zu lernen. Statt Abgründe zu retuschieren und unser Bild von der Menschlichkeit zu verklären, sollten wir uns in Akzeptanz üben, nicht gegenüber der Grausamkeit, sondern gegenüber der Vorstellung, dass auch Grausamkeit, Hass und Sadismus menschlich sind. Wenn ihr mich fragt, entsteht ein sehr viel schöneres Bild, wenn wir Menschlichkeit nicht als statisches Set von Tugenden betrachten, sondern als eine Bandbreite unterschiedlichster Merkmale, die im Homo Sapiens in beliebiger Kombination heranreifen können.

© Dids auf Pexels.com
© Dids auf Pexels.com

Die sechs genannten Männer waren alle Menschen mit Gefühlen, Gedanken, Träumen, Zielen, Talenten, Ängsten und Abgründen – und ebenso menschlich wie jeder andere Vertreter unserer Spezies. Das auszublenden verwehrt uns, Menschlichkeit so zu begreifen, wie sie ist, zu akzeptieren, dass in uns allen das Potenzial zur Wohl- wie zur Gräueltat steckt. Wenn wir auch Tiefen unserer Existenz akzeptieren – nicht notwendigerweise verzeihen – könnte das dazu führen, dass wir zu mehr Verständnis gelangen. Je heller wir unsere Schattenseiten beleuchten, desto weniger verteufeln wir und desto eher lernen wir, mit ihnen umzugehen.

Natürlich soll nicht übersehen werden, welchen Einfluss der Umstand auf uns hat, dass wir keine dieser Personen je persönlich gekannt, und dass Hitler und Stalin vor unserer Zeit gelebt haben:

Die Geschichte hat einen Hang dazu, Persönlichkeiten als Knotenpunkte zu verwenden im verworrenen Netz des Zeitgeschehens. Dies ist aus zweierlei Gründen praktisch: Erstens, weil wir Menschen als soziale Wesen die Geschichte besser verstehen können, wenn sie uns anekdotisch und mit Figurenkonstellation geboten wird, zweitens, weil wir so einen Protagonisten haben, anhand dessen Leben wir Schlüsselereignisse der Geschichte erschließen können. Das geschichtliche Protagonistentum birgt aber den entscheidenden Nachteil, dass wir – die wir an religiös-moralischen Schachtelvorstellungen von gut und böse festhalten – auch hier nach diesen Kategorien einteilen. Dadurch werden aus Menschen Pappgestalten in starren narrativen Rollen, denen wir keine Attribute zuschreiben wollen, die nicht ihrer Rolle entsprechen. Hitler darf kein talentierter Zeichner gewesen sein, weil er böse war; Gandhi als stereotyper Weltverbesserer keine rassistischen oder frauenfeindlichen Züge gezeigt haben.

Zuletzt vielleicht ein Beispiel, das meine Gedankenspiele näher an unsere tägliche Realität bringt: Denk an das Schlimmste, was du jemals getan hast. Vielleicht hast du jemanden verletzt, betrogen, belogen oder misshandelt, vielleicht hast du jemandes Leben zerstört oder es sogar beendet. Nun stelle dir vor, man würde dich anhand dieser Tat charakterisieren, dein ganzes Leben um diesen Punkt auf deiner Lebenslinie auffädeln und aus dem entstehenden Ballen streichen, was nicht ins Bild hineinpasst. Oder, andersherum, stelle dir vor, man würde dasselbe Vorgehen bei deiner besten Tat anwenden. Was kommt dabei heraus?

Durch welche Linse man einen Menschen auch betrachtet, das entstehende Bild kann niemals vollkommen akkurat sein. Verfolgt man aber zusätzlich noch ein Narrativ, demzufolge man Dinge unter- oder ausstreicht, wird das Bild erst recht verzerrt.

Dieses Spiel mit der Dialektik lässt sich natürlich auch auf andere Themengebiete ausweiten. Durch das Wunder der Assoziation verbindet jeder von uns Ablehnung und Zuneigung mit den verschiedensten Gruppen. Wenn ich euch auffordere, einen strohdummen und uninformierten Menschen zu imaginieren, stellt der eine sich einen Neo-Nazi vor, der andere einen Antifa-Aktivisten, wieder ein anderer vielleicht mich im Speziellen (und jeder hätte in seiner Welt vollkommen Recht damit). Jeder von uns hegt Abneigungen gegen menschliche Eigenschaften, die er aus mehr oder weniger guten Gründen nicht ausstehen kann. Und ich gehe so weit zu sagen, dass jede dieser Abneigungen menschlich ist, einige bei entsprechender Argumentation vertretbar, manche sogar gesellschaftlich opportun. Nur sollten wir uns vor Augen halten, dass auch die verhassten und verpönten Eigenschaften Teil der menschlichen Natur sind – sowohl unserer als auch der unserer Mitmenschen.

1 thought on “Die Dialektik in der Menschlichkeit – ein Essay der Gedankenspiele”

  1. Die Banalität des Bösen.
    Wir wollen gern ein Monster sehen, aber da sitzt nur ein Mensch.
    In uns allen wohnt Gutes wie Böses. Schatten und Licht. Interessant ist doch, wann, in welchen Situation und unter welchen Umständen in den einen Menschen das Gute und in anderen das Böse sich ausbildet und zu Taten wird. Gerade in Extremsituationen (wie im Krieg): warum wird der eine zum Mörder und die andere zur mutigen Helferin? Warum der eine zum Vergewaltiger und der andre zum Beschützer, die nächste zur Mitläuferin und ein weiterer zum selbstlosen Held?

Schreibe einen Kommentar