A wie Abfel, B wie Bebi, C wie Cepra…

Auf der Spur des Analphabetismus in Deutschland

Vierzehn Prozent der Erwachsenen in Deutschland können nicht gut genug lesen und schreiben, um in ausreichendem Maß am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Eine Reportage über Betroffene, Dozenten und den Mut, den Stift in die Hand zu nehmen

5 Millionen Menschen in der Bundesrepublik Deutschland können nicht ausreichend lesen und schreiben: eine Zahl, die schockiert – und die uns neugierig gemacht hat. Wir wollen uns ein Bild von diesem verborgenen Phänomen mitten unter uns machen und machen uns auf den Weg.

Definition
Analphabetismus im engeren Sinn bedeutet, überhaupt nicht lesen und schreiben zu können. Häufiger ist der funktionale Analphabetismus. Das heißt, dass die schriftsprachlichen Kompetenzen von Erwachsenen niedriger sind als minimal erforderlich wäre, um den gesellschaftlichen Anforderungen gerecht zu werden.

In vielen deutschen Städten bieten die Volkshochschulen sogenannte Lernwerkstätten an, kostenlose und anonyme Anlaufstellen für Analphabeten. Wir haben uns in einer umgesehen: Bücherregale füllen eine ganze Zimmerwand, an einer anderen hängen eingerahmte Poster. In der Mitte stehen Tische. Es gibt eine kleine Teeküche. Hier lernen ungefähr zehn Personen aller Nationalitäten und Altersklassen, überwiegend sind es Frauen. Die Teilnehmer lesen gemeinsam Texte, füllen Arbeitsblätter aus oder spielen Sprachspiele am Computer wie zum Beispiel Memory mit Wörtern und Bildern oder Bingo mit Buchstaben. Wir dürfen den Einzelnen bei den Übungen helfen. Fast nebenbei erzählen sie uns ihre Geschichten.

Fehlerfreie Liebesbriefe

Wie die von Bashar*. Er ist vor vielen Jahren aus dem Libanon gekommen und spricht fast perfekt Deutsch, nur mit dem Schreiben hapert es noch. Er würde gerne öfter kommen, doch eine chronische Krankheit nimmt ihm viel Zeit weg. Er hofft, dass das Lernen ihm hilft, mehr über seine Krankheit zu erfahren, als die Ärzte ihm mitteilen. Außerdem will er einen Partner finden, der gebildet ist und dem er auch Liebesbriefe schreiben kann, denn: „Das kommt ja ganz blöd, wenn da Fehler drin sind.“

Zahlen und Fakten
14 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung in Deutschland sind Analphabeten. Die Mehrheit der Betroffen ist männlich (60 Prozent), berufstätig (57 Prozent) und hat Deutsch als Erstsprache gelernt (58 Prozent). 19 Prozent von ihnen besitzen keinen, etwa die Hälfte einen unteren Bildungsabschluss. 31 Prozent verfügen über mittlere oder höherer Abschlüsse. Etwa 25.000 Menschen nehmen derzeit an Kursen zum Lesen und Schreiben teil.

Wir treffen auf mehrere ausländische Teilnehmer, die schon jahrelang in Deutschland leben und auch sehr gut Deutsch sprechen und verstehen. Für sie ist die Lernwerkstatt eine gute Möglichkeit, das Schreiben und Lesen deutscher Texte zu üben und so ihre Zweitsprache noch besser zu beherrschen.

Doch die Mehrheit der Analphabeten hat Deutsch als Erstsprache gelernt. Alfred* erzählt, dass er vom Arbeitsamt geschickt wurde. Er ist sich nicht sicher, was das bringen soll, schließlich sei er 60 Jahre lang so zurechtgekommen. Sein Leben lang hat er als Maurer gearbeitet, unzählige Häuser gebaut, bis er wegen eines Rückenproblems aufhören musste. Nun will ihn das Arbeitsamt gegen seinen Willen zur Bürokraft umschulen.

Thomas* kommt ein wenig zu spät. Er ist einer der jüngeren Teilnehmer, etwa Mitte zwanzig. Er leidet an einem Sprachfehler: Fast verschluckt er die Worte beim Sprechen, so schnell kommen sie ihm über die Lippen. Seine Sätze bildet er nach dem englischen Satzbau und oft verwendet er nur die Grundform der Verben. Deshalb fällt ihm das Englische eher leicht. Beruflich hilft das dem Computerspezialisten sehr. Die Lernwerkstatt sieht er als Möglichkeit, an seinen Sprachschwierigkeiten zu arbeiten.

Unsichtbares Phänomen

Das Schwierige am Phänomen Analphabetismus ist, dass es nicht nur für die Gesellschaft, sondern auch für die Betroffenen oft unsichtbar ist. Viele erkennen erst durch einen Kursbesuch, dass sie nicht allein sind. Brigitte Loibl, Koordinatorin der Alphakurse der VHS Augsburg, meint deshalb sogar, dass mit dem ersten Kursbesuch „der größte Teil des Weges schon getan ist.“ Schließlich müssten die Betroffenen dafür viel Mut beweisen.

Nach der Lernwerkstatt findet eine Unterrichtsstunde eines Alphabetisierungskurses statt. Joseph, der Lehrer, unterrichtet mit Humor und ohne Frontalunterricht. Im Kurs geht es sehr familiär zu. Einer der Teilnehmer ist auf der Suche nach einer Wohnung, Joseph hilft ihm dabei. Wir trinken Kaffee und essen Kuchen, weil ein Geburtstag gefeiert wird; nebenbei legt Joseph bunte Karten auf dem Tisch, auf denen jeweils ein Buchstabe steht und die er zu Wörtern zusammenfügt, die gemeinsam vorgelesen werden. Danach üben die Schüler das Präteritum. Joseph schreibt an die Tafel: Ich aß, du aßt, er/sie/es aß, wir aßen. „Aber des sagt ma net, hia sagt ma: Der hat an Schweinsbratn gessn.” Die Schüler lachen, die zwei Stunden Kurs sind schnell vorbei. Am Ende bitten uns alle, nächste Woche wiederzukommen. Wir sind erschöpft von den vielen Eindrücken und empfinden tiefen Respekt vor der Arbeit der Dozenten. •

*Alle Namen von der Redaktion geändert

Hilfe und Infos
Die meisten Kurse werden von den Volkshochschulen angeboten. Bei der Suche nach einem Kurs in der näheren Umgebung hilft das kostenlose Alfa-Telefon 0800-53 33 44 55.

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