Wenn ihr an Indien denkt, was kommt euch dann in den Sinn? Krankheiten? Armut? Bollywood? Aber auf jeden Fall kein Land um dort Urlaub zu machen oder? Ich war neugierig und wollte mit eigenen Augen und nicht nur aus Dokumentationen auf arte sehen, was dieses riesige Land zu bieten hat und ob es seinem Ruf wirklich gerecht wird. Deshalb war ich in den Semesterferien im Norden Indiens. Genauer gesagt in Dehli, Agra, Lucknow und Varanasi.
Menschen über Menschen
Wenn man in Dehli landet und das Erste was man sieht ein überfüllter Rollerparkplatz ist, wie man ihn nicht mal im Hochsommer am Baggersee sieht, wird einem ganz schnell bewusst: Hier gibt es ganz schön viele Menschen. Und zwar überall, zu jeder Tageszeit und an jedem Ort wuseln zumindest in den Großstädten unzählige Menschen durch die Straßen. Auf Rikschas, in TukTuks, Taxis oder auf dem Rad, auf Indiens Straßen ist immer was los, man ist wirklich nie allein. Ich habe genau danach gesucht bevor ich mich entschlossen habe einen Teil meiner Semesterferien in Indien zu verbringen: einem pulsierenden aufregenden und völlig anderem Land als Deutschland.
Kultur pur
Ich war froh, dass ich gar nicht erst eine Jeans im Rucksack hatte, sondern gleich in Deutschland auf lange bunte Röcke gesetzt habe. Jedoch konnten auch die den in wunderschöne Saris gekleideten Frauen nicht ansatzweise das Wasser reichen. Schultern und Knie müssen bedeckt sein, aber bauchfrei gehört zur guten Sitte und zwar nicht für diejenigen, die ein Sixpack haben. Nein, ohne richtigen Bauch könnte ja keine Frau einen anständigen Bauchtanz aufführen, deshalb präsentieren indische Frauen auch gerne mal ihre Extrapfunde unverschleiert. Zusätzlich zum dritten Auge zwischen den Brauen tragen auch sehr viele Frauen einen Nasenpiercing, selbst sehr alte. In Deutschland schon mal eine Oma mit Piercing gesehen? Um die Kultur und das Lebensgefühl der Inder in sich aufzusaugen braucht man in kein Museum zu gehen, ein Schritt ins Stadtleben und man ist voll dabei. Hier wird gefeilscht, gekocht, verkauft und gesprochen, gebetet, gebettelt und gewaschen. Man hat das Gefühl, das gesamte Leben findet auf der Straße statt, was für tausende Inder leider auch traurige Wahrheit ist. Noch nie habe ich so viel Armut gesehen wie in diesem Land. Unzählige Straßenbettler, Kinder, Hunde und Kühe – alle haben kein Dach über dem Kopf und keinen Zugang zu sauberem Wasser. Die Armut der größten Demokratie der Welt lässt sich nicht leugnen. Bewundernswert ist einfach nur, wie die Menschen hier damit umgehen. Viele wollen natürlich Geld von uns „reichen Weißen“, doch bestohlen oder bedrängt wurde ich nie. Und auch von armen Straßenhändlern wurde ich stets freundlich begrüßt und teilweise sogar zum Essen eingeladen oder zum Hinsetzen gebeten. Die Menschen dort sind einfach von Grund aus freundlich. Wenn du lächelst, lächeln sie zurück, wenn du Hilfe brauchst, versuchen sie dir auch im größten Stress zu helfen und wenn du müde wirkst, dann hilft auf jeden Fall eine Tasse süßer Chai-Tee. An Gastfreundschaft, Ehrlichkeit und Freundlichkeit mangelt es den Indern nicht, was eventuell auch an der Bilanz ihres Karma-Kontos liegen könnte.
Bunte Götterwelt
Der Großteil der Inder gehört nämlich dem Hinduismus an. Ihre Religion ist daher allgegenwärtig und ihr Glaube bestimmt das gesamte Zusammenleben. Angefangen bei bedeckter Kleidung über prächtige Tempelanlagen und Leuchtreklamen im Bus. Die zahlreichen Gottheiten neben Krishna und Shiva sind in jeglicher Form überall zu finden und nach einigen Tempelbesuchen auch schnell in meinem Kopf verankert. Bunt, mit Räucherstäbchen, Blumen und vielen Ritualen, wird in Indien der Hinduismus ausgelebt. Besonders in Varanasi, konnte man die Energie dieser Weltreligion förmlich spüren. Mama Ganga, für uns der Ganges, für Hindus eine Gottheit, fließt direkt durch diese Stadt. Jeder Hindu, der bereit ist zu sterben oder bereits so krank ist, dass er bald sterben wird, begibt sich in diese Stadt um anschließend am Ufer des Ganges verbrannt zu werden und seine Asche mit dem Ganges zu verschmelzen. Vor der Reise war ich mir nicht darüber im Klaren, ob ich mir den Anblick von brennenden Leichen am Ufer wirklich antun sollte. Doch nachdem ich die Grundgedanken des Hinduismus verstanden hatte und gesehen habe, dass viele Hindus nur auf ein erfülltes Leben nach dem Tod warten und hoffen endlich aus dem Reinkarnationskreislauf auszubrechen, konnte ich mich diesen heiligen Zeremonien nicht entziehen. Natürlich ist es gewöhnungsbedürftig gewesen, wenn während einem Lassi plötzlich eine Barre mit einer Leiche zum Ganges getragen wurde, oder man einen Kaffee angeboten bekommt während vor seinen Augen am Ufer drei Tote brennen. Aber wenn man sich in die Verstorbenen hineinversetzt und weiß, dass sie nun möglicherweise für immer von den Leiden der Erde befreit sind, ist das nicht zuletzt nach all der Armut, die ich gesehen habe auch ein schöner Gedanke. Wer weint oder traurig ist wird außerdem sofort von den Ghats (Stufenabschnitte am Ganges) verwiesen, denn die Seelen der Toten können nicht frei sein, wenn sich jemand auf der Erde um sie sorgt und sie betrauert. Nach dieser beeindruckenden Stadt hat sich zumindest meine Sicht auf den Tod ziemlich verändert und auch die Lebenseinstellung der Hindus hat mir einiges zum Nachdenken mitgegeben auch lange nach der Reise.
Essen zum Träumen
„Ess niemals auf der Straße“, sagten sie, „Meide auf jeden Fall Milchprodukte“, meinten sie und „Kauf immer nur etwas an Touristenstellen“. Ja, über das indische Essen gibt es so einige Ratschläge, von denen ich keinen einzigen berücksichtigt habe. Wäre auch wirklich schade um den leckeren Paneer oder das Kichererbsencurry gewesen. Tabletten gegen Übelkeit, Erbrechen und Durchfall hatte ich zuhauf dabei, ich würde sie sicherlich schon noch einigen Tagen brauchen war ich mir sicher. Doch außer einer Tablette, die ich wohl aufgrund von Überfressen eingenommen habe, wurde ich nie krank. Von Straßenständen in Varanasi bis hin zur Food-Tour in Dehli – mein Magen hat alles mitgemacht und ich träume heute noch von Lassi und Jalebi (Milchgetränk und Zuckergebäck). Zusätzlich zum einzigartigen Geschmack sind natürlich auch die Preise dort unschlagbar. Für umgerechnet 30 Cent wird man am Straßenstand satt und kann so auf jeden Fall noch Trinkgeld springen lassen.
Auffällig anders
Meine Haare sind hell, meine Haut ziemlich weiß und ich bin relativ groß, ich falle also richtig auf zwischen den eher kleinen, schmächtigen, sehr dunklen, brünetten Indern. Dass ich anders bin konnte ich auch mit langer Kleidung, die ich die ganze Reise über getragen habe, nicht verstecken. Die Leute winkten mir zwei Straßen weiter zu, wenn sie mich an der Scheibe im Bus entdeckten und die Rikscha Fahrer stritten sich wer mich fahren darf. Ich musste unzählige Selfies mit Einheimischen schießen und wurde nicht selten einfach ungefragt gefilmt. Nach ein paar Tagen in diesem Land wusste ich zumindest eins ganz genau: Ich wollte niemals wirklich berühmt werden! „Aber warum machen die das?“, fragte ich mich. Ich meine, macht ihr ein Selfie mit jedem Inder, dem ihr in Augsburg begegnet? Auf Nachfrage sind viele eher schüchtern, sagen jedoch, dass sie einfach helle Haut so schön finden. Als ich mit Leuten im Hostel spreche, erfahre ich, dass sie denken jeder Weiße ist reich, einflussreich und hat ein perfektes Leben um das sie uns beneiden. Die Fotos, die sie mit uns schießen werden sie ihren Freunden zeigen und ihnen sagen, dass wir ihre Freunde sind, diese werden beeindruckt sein und ihr Ansehen wird steigen. Irgendwie ziemlich traurig oder? Andererseits habe ich auch viele weiße Touristen gesehen, die arme Straßenkinder fotografieren und das ohne vorher um Erlaubnis zu bitten, ganz offensichtlich. Da sind mir die Inder die Selfies wollen dann fast schon lieber…
Viele Freunde haben gesagt: „Indien ist wirklich kein Land wo ich hingehen würde“ oder „Was willst du da?“ Und: „Ist es da als Frau nicht ziemlich gefährlich?“ Ich kann die Zweifel an Indien auch nach meiner Reise noch verstehen und denke auch, dass nicht jeder sich im lauten, dreckigen und bunten Gewusel in Indien wohlfühlt. Indien ist anders als Europa und auch anders als andere asiatische Länder wie Thailand oder Malaysia. In Indien ist immer was los, alle sind auf Achse, der Bus kostet 20 Cent und genau diesen Komfort bietet er auch, aber trotzdem hat in all dem Chaos alles eine faszinierende Ordnung. Denn der Bus kam an und das sogar pünktlich und es passierte kein Unfall und das im Rückwärtsgang auf der Autobahn und selbst die kleinste Bruchbude war auf Google Maps und Tripadvisor zu finden. Indien ist anders aber auch hier sind Menschen zu Hause und auch wir Europäer können, wenn wir nur wollen in diese Welt eintauchen. Bauern trocknen Kuhfladen als Brennstoff um handgeformte Ziegel zu brennen, die mit dem Esel zur nächsten Baustelle transportiert werden, wer braucht Brennholz, Maschinen oder gar einen LKW? Der Elektromarkt ist kein Gebäude, sondern besteht aus unzähligen aneinandergesetzten Buden, die leuchten und blinken, aber doch Technikgeräte auf dem neuesten Stand anbieten. Genauso ist es mit Kleidung, Gewürzen, Lebensmitteln, Schuhen und Schmuck, die Konkurrenz befindet sich direkt im Viertel, noch nie war Preisvergleich so einfach. Ich könnte noch Stunden länger über die Gegensätze und Kuriositäten erzählen, jedoch nützt euch das alles nichts. Das richtige Indien erlebt man nicht in Dokus auf arte oder Artikeln von Presstige, sondern nur im Gewusel einer indischen Großstadt. Also an alle Abenteurer, die auf einen Kulturschock und jede Menge neuer Eindrücke aus sind, lasst euch Indien nicht entgehen, nicht durch Gerüchte, die kursieren, nicht durch gutgemeinte Ratschläge und auch nicht durch Angst vor Krankheiten. Auch, wenn ihr eine Frau seid! Ich muss zugeben, dass ich in männlicher Begleitung war, aber wir trafen während der Reise auch auf alleinreisende Frauen, die keine Probleme hatten sich in Indien zurechtzufinden wider aller in der Heimat bestehenden Meinungen.
Sehr schöner, interessant zu lesender Bericht. Top