Groß und mächtig, schicksalsträchtig

Über den Mythos Berg

Text: Katharina Pfadenhauer – Illustration: Sandra Deyerler

„Aufi zu die Stanahüpfen, aufi zu die Bergesgipfel, ziagt‘s mi halt mit aller G‘walt. Der Berg schickt ma sein‘ Gruaß. Aufi muass i, i muass“. Schlange stehen auf dem Weg in die Todeszone. Expeditionen auf den Mount Everest sind inzwischen zum Touristen-Run geworden. Seit jeher zieht es Menschen rauf zu den schwarzen Wolken und Gesteinsmassiven, um die sich zahlreiche Mythen und Legenden ranken. So wie den „Bua“, der in dem Musical „Der Watzmann ruft“ – aus dem die Zeilen eingangs stammen – seinen Vater darum bittet, ihn „ziehen zu lassen“.

„Well, George, we knocked the bastard down“. Als Edmund Hillary und Tenzing Norgay, die beiden Erstbesteiger des Mount Everest, am 29. Mai 1953 vom Gipfel zurückkamen, begrüßten sie George Lowe, einen neuseeländischen Freund am Südsattel mit diesen Worten. Fünfzehn Minuten verbrachte Ed Hillary zusammen mit dem nepalesisch-indischen Sherpa auf dem höchsten Punkt der Erde. Mittags um halb zwölf. Der Himmel war fast schwarz. Der gläubige Sherpa soll auf die Knie gefallen sein, um im Schnee auf 8848 Meter Höhe persönliche Dinge für die Götter zu vergraben. Denn nach Vorstellung des Sherpa-Bergvolks sind Berge von Göttern bewohnt, die es günstig zu stimmen gilt.

Vom Wolpertinger zum König Watze

Ob im Wallis, in Tirol, Slowenien oder dem Himalaya kulturübergreifend finden sich ähnliche Vorstellungen darüber, dass weit über den Pässen überirdische Mächte – gute wie böse – walten. Arme Seelen, böse Geister, die auf den eisbedeckten Gipfeln ihr Unwesen treiben. Wo sonst als in den schwer zugänglichen Gebirgsregionen sollten sich derart unheimliche Gestalten verstecken: Mysteriöse Tiere wie der Wolpertinger, der die Angriffslust und Stärke eines Wolfes besitzt, aber grazil und beweglich ist wie ein Reh. Spuren im Schnee, die nicht von Menschen stammen können. Der Titan Atlas, der im Kampf gegen die Götter des Olymps in ein Gebirge verwandelt wurde. Bauern, die beim Melken einen kleinen Rest für den Geißfüßler im Euter ließen. Man versuchte, Schuldige für die widrigen und bedrohlichen Bedingungen auf den Gebirgspässen und die unerklärlichen Phänomene und Unglücke zu finden. Wetterwechsel, Lawinen, dünne Luft, Steinschlag – all das ging nicht selten mit Todesfolge einher. Schicksalsmächtige Gestalten waren Erklärungen dafür, warum die Bergweiden der Almbauern zu Geröllfeldern wurden, warum Wetterleuchten ohne dazugehörenden Donner auftrat, warum es in den Allgäuer Alpen „bramselt“, wenn es vor elektrischer Spannung knistert. „Dort, wo man schlecht hinkommt und nur mühsam hindenken kann, beginnt das Reich der Geister“, schreiben die Autoren Veronika Straaß und Claus-Peter Lieckfeld.

„Um seinen Gipfel jagen Nebelschwaden. Ein Donnern schickt er oft ins Tal und dann schaudert‘s alle auf a‘mal. Wenn er donnert, Gott behüt‘. Der Berg, der kennt koa Ei‘sehn. Watzmann, Watzmann, Schicksalsberg“.

Der Watzmann, 2.713 Meter hoch, ist Berchtesgadens Schicksalsberg. Hunderte Tote forderte er, die meisten davon in der Ostwand, die früher für die Anwohner unüberwindbar war. Vor allem ihre Länge und die schwierige Orientierung im Fels wurden und werden vielen zum Verhängnis. Mit dem Watzmann-Musical hielten der Ruf des grausamen Berges und die König-Watzmann-Sage schließlich Einzug in die Popkultur: Einst herrschte König Watze über das Berchtesgadener Tal. Er galt als grausam und verschlagen, verwüstete zusammen mit seiner Familie die Felder der Bauern, drangsalierte seine Untertanen. Als eine Bauernfamilie mit Hirtenhund und Herde Opfer seiner Meute wurde, verfluchte die Bäuerin den König. Seitdem thront der König mit seiner Familie versteinert über dem Berchtesgadener Land. Die Stelle, an der der Hirtenhund in den Tod stürzte, kennt man als Hundstod. Das Blut der Königsfamilie floss im Königssee zusammen.

Ausgabe 27: Wohnen Dieser Artikel erschien zuerst in Ausgabe 27 unseres gedruckten Magazins.

Die Anziehungskraft der Berge und der Grenzerfahrungen

Der Berg, das Unwirtliche und Ausgesetzte, seine Legenden und Sagen üben seit jeher eine Anziehungskraft auf Menschen aus. Berge stehen für Ewigkeit, Unveränderlichkeit, Standhaftigkeit, Freiheit. Extrembergsteiger suchen oftmals die Gefahr am Berg. Ob es die legendäre Eiger-Nordwand ist, die sie bezwingen wollen oder die Todeszone, den Höhenbereich oberhalb 7.000 Meter, in die sie sich ohne Sauerstoffmaske begeben. Wer an seine Grenzen und darüber hinausgeht, möchte einen Zustand erreichen, den der ungarische Psychologe Mihály Csíkszentmihályi mit „Flow“ beschreibt: Man sei im Einklang mit dem, was man tut. Nur der Augenblick zählt. Der Körper setzt in diesen Momenten Endorphine frei, die Schmerz und Hunger unterdrücken, euphorisch machen und Ängste lösen. Grenzgänger entwickeln eine Art „Angstlust“, die süchtig machen kann, hat man sie einmal erlebt. Über seine erste Grenzerfahrung hat Edmund Hillary übrigens lange Zeit nie alles erzählt. Erst in dem 2001 erschienenen Buch „Die Abenteuer meines Lebens“ veröffentlichte er ein unbekanntes Detail, was damals auf dem Gipfel noch geschehen ist: Weil Höhenbergsteiger viel trinken müssen, da sonst das Blut unnötig dick wird, musste die Flüssigkeit vor dem Abstieg raus. Also erleicherte sich Edmund Hillary als erster Mensch der Welt auf dem höchsten Punkt der Erde. Wenn der Berg einen ruft, sagt man, höre dieses Rufen niemals auf. So musste am Ende auch der Bergbauer im Watzmann-Musical seinen „Bua“ schweren Herzens ziehen lassen – wohlwissend, welches Schicksal ihn dort oben ereilen würde:

„Viel‘ hat‘s scho‘ ‘packt, an Berg aufi g‘lockt. G‘folgt san‘s ihm tapfer, aber der Berg, der will sei‘ Opfer“.

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