Lehre for free

Wo Qualität gar nichts kostet: An der Uni Augsburg lehren hervorragende Wissenschaftler für lau

Von Jörn Retterath

Zwölf Jahre war Michael Philipp am Politik-Lehrstuhl beschäftigt – sechs Jahre Beamter auf Zeit. Nach dieser Zeit, so schreibt es das Beamtenrecht vor, muss die Stelle unbefristet besetzt werden. Eigentlich eine Arbeitnehmerschutzregelung. Doch für den promovierten und habilitierten Wissenschaftler bedeutete dies, da es kein Geld für eine unbefristete Stelle gab, die Arbeitslosigkeit.
So wie ihm ergeht es auch zahlreichen Kollegen, die sich mit einzelnen Lehraufträgen oder Taxifahren über Wasser halten müssen. Sie alle eint: Sie sind hochqualifiziert, verfügen über einen Doktortitel und haben ihre Habilitation geschrieben. Nur ein Bruchteil der Privatdozenten schafft es, mit geförderten Forschungsprojekten einen gewissen Zeitraum zu überbrücken. Die meisten stellen sich die Frage: „Wie lange kann man das finanzieren?“

Kein positiv psychologischer Effekt: Die Frau bezahlt

Philipp schätzt, dass etwa jede dritte bis vierte Lehrveranstaltung in Politik unbezahlt gehalten wird – von Promovierenden, Privatdozenten, Emeritierten. Damit hängt ein nicht unwesentlicher Teil des Lehrbetriebs an ihnen. „Trotz steigender Studierendenzahlen gibt es nicht mehr Stellen, sondern weniger.“ Da es in anderen Arbeitsfeldern wie bei Stiftungen, Bildungsträgern oder in der freien Wirtschaft auch nur wenige freie Stellen für Politologen gibt, fehlt den meisten Privatdozenten eine berufliche Perspektive. Auch die Hoffnung auf eine heißbegehrte Professur hat Michael Philipp beinahe aufgegeben, da in Zeiten chronisch knapper Kassen kaum Stellen zu besetzen sind. Um die wenigen tobt ein erbitterter Konkurrenzkampf. Viele hochqualifizierte Wissenschaftler suchen trotzdem vermehrt in der Wirtschaft ihr Glück. Lieber kehren sie dem Universitätsbetrieb den Rücken, als jahrelang unbezahlt zu lehren. Warum er überhaupt noch Veranstaltungen an der Uni anbietet? Für ihn sei es eine Genugtuung, wissenschaftlich zu arbeiten. Außerdem habe es einen positiven psychologischen Effekt, wenn man etwas tun kann, erläutert Philipp. Zum Glück kann seine Frau seinen Lebensunterhalt mittragen, andernfalls „kann man davon nicht leben“, betont er.

Hoffnungslos überqualifizierte Sozialfälle

Ein Ausweg aus der Misere ist nicht in Sicht. Vielleicht schaffe ja die leistungsbezogene Besoldung mehr Professorenstellen. Studiengebühren, da ist sich der Gesellschaftswissenschaftler sicher, ändern zumindest kurzfristig nichts an der Stellensituation.
In einer ähnlichen Lage befinden sich zahlreiche Dozenten: Der Musikwissenschaftler Erich Tremmel hat zwei Lehraufträge, von denen nur einer bezahlt wird. Seine Chancen an der Uni Augsburg, so glaubt er, stehen schlecht. Auch in der freien Wirtschaft rechnet er sich kaum Perspektiven aus. Den meisten Chefs erscheint er mit seiner Habilitation „hoffnungslos überqualifiziert“ erscheine. Daher will Tremmel auch außerhalb Deutschlands auf Jobsuche gehen. Sein Kollege Jörg Wernecke war sieben Monate arbeitslos – eine verhältnismäßig kurze Zeit, wie er erklärt. Der habilitierte Philosoph hat nun zum Wintersemester eine Gastprofessur in Ulm erhalten. Ein seltener Glücksfall. „Bei 90 Prozent der Kolleginnen und Kollegen sieht es verheerend aus – die Gefahr ist groß, ein Sozialfall zu werden“, so Wernecke. Auf eine Stelle bewerben sich in seinem Fach häufig 150 Kandidaten. Besonders die Erfahrungen auf dem Arbeitsamt seien zutiefst deprimierend: „Überqualifiziert und zu alt“, so lauteten dort oft die Reaktionen.

Schultze: Ohne geht’s auch

Auch Dekan Prof. Dr. Schultze kennt dieses Phänomen. Etwas Neues sei es hingegen keinesfalls. So habe es bereits im 19. Jahrhundert Privatdozenten gegeben. Neuartig sei die schwierige Situation auf dem Arbeitsmarkt, der insbesondere für Geistes- und Sozialwissenschaftler kaum Stellen biete. Hinzu kommt, dass die Anzahl der Privatdozenten im Gegensatz zur Anzahl der Professorenstellen steigt, wie Rainer-Olaf Schultze erläutert. Auf diese Weise entsteht ein Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage. Derzeit sei die „Hochschullandschaft in Bewegung“, erklärt der Politikprofessor. Mit Bewegung meint er, dass im Zuge der Restrukturierung Professorenstellen „umgewidmet“ und damit an andere Fakultäten verschoben werden. „In den Geisteswissenschaften weht uns der Wind ins Gesicht“, so Schultze. Für den jungen habilitierten Wissenschaftler gibt es drei Möglichkeiten: Entweder ein Forschungsprojekt aus Drittmitteln, unbezahlte Lehraufträge als Privatdozent oder eine berufliche Umorientierung. „Darüber“, so Dekan Schultze, „muss sich jeder junge Wissenschaftler im Klaren sein.“ Der Status des Privatdozenten, Voraussetzung für eine spätere Professur, erlischt, wenn keine (unbezahlten) Lehraufträge gehalten werden. Viele Privatdozenten im Fach Politik, zählt Schultze auf, hätten jedoch neben ihrer Lehrverpflichtung an der Uni noch einen bezahlten Beruf – meist an anderen Bildungseinrichtungen. Der Dekan der PhilSoz-Fakultät glaubt indes nicht, dass das Lehrangebot in seinem Fach von den Billigdozenten abhängig sei: „Wir sind froh über jeden Lehrenden, aber wenn die Privatdozenten keine Kurse anbieten würden, dann müsste die Anderen halt mehr machen“.

KOMMENTAR
Ist das nicht beschämend? An der Universität Augsburg halten Privatdozenten Seminare und Vorlesungen, korrigieren Klausuren, nehmen Prüfungen ab, betreuen Studierende, Doktoranden und vieles, vieles mehr. Ihr Lohn: Weder Geld noch berufliche Perspektiven oder gar Anerkennung. Hochqualifizierte Wissenschaftler sollen die geistigen Eliten von morgen ausbilden – ohne Bezahlung. Zutiefst unmoralisch ist es, wenn Menschen für ihre Arbeit nicht gerecht entlohnt werden. Und ich bewundere, dass viele Privatdozenten dies mitmachen. In der Tat bedarf es einer gehörigen Portion Idealismus und Enthusiasmus, sich auf solche Bedingungen einzulassen. Ohne die „Lehre for free“ wären Anzahl und Auswahl der Lehrveranstaltungen an der Uni Augsburg geringer, Hörsäle und Seminarräume wären noch voller.
Kein Grund zur Freude! Viele hochqualifizierte Wissenschaftler kehren Lehre und Forschung den Rücken – keine Überraschung bei solchen Bedingungen an den Unis. Sie zieht es in die Wirtschaft. Oder an ausländische Hochschulen, wo sie dem Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort Deutschland unwiederbringlich verloren gehen.
Und noch eine weitere Gefahr droht: Durch das Seminarangebot der Privatdozenten, könnte man langfristig bezahlte Assistentenstellen an der Lehrstühlen einsparen. Schließlich gibt es ja einen Fundus qualifizierter Kräfte, welcher dieselben Veranstaltungen viel günstiger anbietet – nämlich gratis. Die erbärmliche Krone einer fatalen Entwicklung! Privatdozenten und wissenschaftliche Assistenten wären gleichermaßen die Verlierer. Die Zeche zahlen schlussendlich wir: die Studierenden.
(Jörn Retterath)

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