Eine Stadt sieht rot

Ungeduld ist doch keine Tugend, weiß Christopher Große

Kleines Ratespiel: Jemand möchte vom Augsburger Hauptbahnhof zur Universität fahren. Rund vier Kilometer mit dem Wagen. Wieviele Ampeln wird er passieren müssen?

 

Von Christopher Große

Stolz schmückt sich Augsburg mit dem blumigen Attribut „grünste Stadt”. Diese Stadt mag grün sein, auch grau (Oberhausen), blau (Maxstraße Samstag Nacht) oder rosa (obwohl, nein – sowas gibt’s hier nicht). Diese Stadt ist aber vor allem eines: dauerrot. Übrigens keine Anspielung auf den schnauzbärtigen Stadtvorsteher und seine schlafmützige nachtschwarze Konkurrenz. Die grüne Welle hingegen ist keine Legende. Sie existiert wirklich.  Nicht jedoch in Augsburg.

Mein teurer Brieffreund

Früher hatte man Brieffreunde. Der tägliche Gang zum Briefkasten ein Erlebnis – voll Spannung und Vorfreude. Meistens dann Ernüchterung – niemand hat geschrieben. Manchmal dann doch ein Brief. Entschädigung für wochenlanges Warten. Heute ist alles anders. Jeden Tag viel Post. Meistens Rechnungen. Und ich habe wieder einen Brieffreund. Früher war es der Polizeipräsident von Berlin. Heute ist es der Verkehrsüberwachungsdienst der Stadt Augsburg aus dem malerischen Pulvergäßchen. Manchmal schreibt er ganz besonders verwegenes Zeug: „Sie missachteten das Rotlicht der Lichtzeichenanlage. Die Rotlichtphase dauerte bereits länger als eine Sekunde an.” Und mein Anwalt, der übrigens gerne zum Fahrradurlaub nach Mallorca fliegt, erzählt mir dann eine aufregende Geschichte über den qualifizierten Rotlichtverstoß. Eigentlich wollte ich mich echauffieren. Auf das Übelste. Denn die Autofahrt in die Redaktion dauert 15 Minuten – oder eben nur sechs. Nur bekomme ich dann leider zuweilen besagte Briefe. Deswegen rufe ich beim Tiefbauamt an und spreche mit Sandor Isepy, Abteilungsleiter Öffentliche Beleuchtung & Verkehrstechnik und Herr über 280 Ampelkreuzungen.

Nicht Kunst und Wissenschaft allein, Geduld will bei dem Werke sein

„Straßenbahnen und Busse sind selbstverständlich priorisiert.” Na bitte! Das wollte ich hören. Rote Welle? Autofahrerterror? Isepy wiegelt ab: „Das stimmt nicht! Es geht um eine Abwägung, und wir arbeiten jeden Tag wohlwollend und fleißig daran, dass es im Augsburger Verkehr besser läuft. Wir möchten die Interessen aller Verkehrsteilnehmer so ausgewogen wie möglich berücksichtigen.” Warum nur habe ich den Eindruck, dass ich bei dieser Abwägung jedes Mal zu kurz komme? „Klar können technische Defekte vorkommen, aber das ist selten.” Auch müsse man sich an bestimmten Kreuzungen für den Vorrang der Straßenbahn in ihrem knappen Fünf-Minuten-Takt entscheiden. „Und dann gibt es noch psychologische Gründe.” Ich werde hellhörig. Er spricht von Rücksichtnahme. Von alljährlich mehr Autos auf den Straßen. Und dass Ampeln doch eigentlich nur dann zum Ärgernis würden, wenn man in Eile oder übellaunig sei. Dieser Mann, der im Jahr 50.000 Kilometer Auto fährt, will beim besten Willen nicht so klingen, als habe er es sich zu seiner perfiden Lebensaufgabe gemacht, mich sukzessive in den Wahnsinn zu treiben: „Wir arbeiten selbstverständlich an grünen Wellen.” Bin ich also am Ende selbst schuld? Ist es Mangel an Langmut, wenn ich vor Wut schnaubend, mit hochrotem Kopf und ebensolchen Bremsklötzen, zum geschätzt 82. Mal binnen Minuten an einer Haltelinie zum Stehen komme? Darüber muss ich nachdenken. Das kann ich am besten am Steuer.

Hauptbahnhof und Uni trennen übrigens 25 Ampeln.

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