Die Opera Incognita und Zuflucht Kultur e.V. inszenieren die Oper Carmen ebenso brisant wie modern
Seit 150 Jahren besingt die feurige Carmen in der gleichnamigen Oper die Liebe als „wilden Vogel“. Auf den ersten Blick erscheint auch Carmen selbst unbändig, frei und unsterblich. Doch ihr tragisches Ende zeigt, wie gefangen sie in ihrem Freiheitsstreben ist.
Am Samstag dem zweiten September 2017 wurde die dramatische Figur im Mixed Munich Arts wieder zum Leben erweckt. Dort wurde eine ganz besondere Oper aufgeführt. Die Opera Incognita, die sich zum Ziel gesetzt hat die Oper sowohl für etabliertes als auch für junges Publikum zugänglich zu machen und der Verein Zuflucht Kultur, der Integration durch musikalisches Miteinander ermöglicht, spielten unter der Leitung von Andreas Wiedermann und Ernst Bartmann eine moderne und sehr realistische Version der Carmen. Aus dem ehemaligen Heizkraftwerk, das zum Club und Veranstaltungsraum umgewandelt wurde, wurde das Bühnenbild für George Bizets Oper in vier Akten.
Die Inszenierung begann entgegen der gewohnten Aufführungspraxis mit dem Tod Carmens. Danach wurden die ersten drei Akte gespielt. Damit wurde Carmens Tod ins Zentrum des Geschehens gerückt. Die Mezzosopranistin und Leiterin von Zuflucht Kultur e. V. Cornelia Lanz, die die Rolle der Carmen übernahm, traf mit ihrem Schauspiel und Gesang die verruchte, starke aber gleichzeitig auch tragische Seite der Carmen besonders pointiert. Sie betonte die Ausweglosigkeit der Fabrikarbeiterinnen. Der Körper und sein Einsatz für die Freiheit der eigenen Existenz in einer von Männern dominierten Welt wurden zum Leitmotiv der Carmen in dieser Inszenierung. Ihr Gegenpart, die reine, unschuldige und doch starke und pragmatische Micaela, gespielt von Julia Bachmann, sorgte mit ihrem außergewöhnlich schönem Gesang für Gänsehaut bei den Zuschauern. Micaelas erster Auftritt blieb auch wegen der besonders realistisch dargestellten sexuellen Belästigung seitens der Wachen in Erinnerung. Dabei hat der Bariton Tom Amir nebst Gesangs- auch schauspielerisches Talent bewiesen. Umrandet wurde der erste Akt durch das schöne Solo von Wisam Kanaieh, die ein arabisches Stück sang.
Micaela kam in die Nähfabrik, um nach ihrem Verlobten Don José (gesungen von Anton Klotzner) zu suchen. Dieser war schon ganz im Bann der verführerischen Zigeunerin Carmen, die ihn mit einer Blume neckte und Versprechungen auf eine Fortsetzung gab. Don José haderte nun mit seinem Gewissen. Doch seine Eifersucht nahm ihm die Entscheidung für eine der Protagonistinnen ab. Er griff seinen Vorstehenden Zuniga (Ahmad Shakih Ponya) an, als dieser sich Carmen annäherte, und wurde somit zu einem Aussätzigen, der nun zusammen mit Carmen und ihrer „Räuberbande“ Drogen schmuggelte. Seine geliebte Carmen wandte sich jedoch von ihm ab, als sie merkte, dass er eher seinem Pflichtgefühl nachgehen wollte, als mit ihr in die Freiheit zu fliehen. Sie suchte sich einen neuen Verehrer, den Torero Escamillo (gespielt von Torsten Petsch). Dieser Torero fuhr auf einer Vespa auf die Bühne und wurde von allen bejubelt. Aufgefressen von Eifersucht und Carmens Abweisung erstach Don José schließlich die ungehorsame Geliebte.
Es gibt viele Interpretationen sowohl der Novelle als auch der Oper. Carmen wird oft als Femme fatale dargestellt und Don José als Opfer, das Carmens Bann verfallen ist. Bei dieser Inszenierung stach jedoch vor allem die Ausweglosigkeit der Fabrikarbeiterinnen hervor. Als Näherin konnte Carmen der Zwangsarbeit nicht entfliehen, wenn sie ihren Körper nicht verkaufte. Und selbst dann konnte sie ihre Freiheit erst im Tod erlangen. Das Bühnenbild, oder vielmehr der Ort, an dem die Oper aufgeführt wurde, unterstrich die raue Wirklichkeit der Arbeiterinnen. Graue Gitter, Beton und das Geräusch der Nähmaschinen bildeten die perfekte Bühne für die düstere Welt der Näherinnen. Daher passte das Bühnenbild sehr gut zur Inszenierung und suggerierte genau die richtige Stimmung, auch wenn es laut Cornelia Lanz bei der Akustik zu leichten Nachteilen führte. Das Finale der Oper war besonders fulminant. Die ermordete Carmen hing an einem Hacken in der Luft, gleich einem Stück Fleisch und man hörte nur das stetige Geräusch der Nähmaschinen. Die Szene stellte damit die ultimative Versinnbildlichung der Aussage der Inszenierung dar: Die Objektivierung des weiblichen Körpers.
Es war eine stimmige und ungewöhnliche Aufführung, die vom außergewöhnlichen Aufführungsort und dem gelungenen Bühnenbild profitierte. Besonders der Gesang Julia Bachmanns (Micaela) und Wisam Kanaiehs (Maria) hat das Publikum berührt. Die I-Tüpfelchen der Aufführung waren vor allem die unerwarteten, eingebauten Soli, welche die Multikultaralität der Oper wie auch des Vereins Zuflucht Kultur gekonnt erfassten. So zum Beispiel das in aramäischer Sprache vorgetragene Solo des jüdischen Kantors Yoéd Sorek zum Tod Carmens.
Ein Besuch der Inszenierung lohnt sich also nicht nur wegen der tollen und notwendigen Arbeit der Opera Incognita sowie des Vereins Zuflucht Kultur, die sowohl Kultur generationsübergreifend vorantreiben als auch Integration und Kulturaustausch ermöglichen. Gerade auch die professionelle und neuartige Interpretation überrascht und begeistert.