Erinnerungsklang

Bild: (c) Pixabay

Wenn man ihr etwas sagte, hatte sie es im nächsten Moment schon wieder vergessen.

Sie vergaß die Milch auf dem Herd, die dann überkochte und sie mit einem knisternden Ton samt einem durchdringenden Geruch im Wohnzimmer erreichte. Sie folgte diesem Ton und diesem Geruch und fand die übergekochte Milch auf dem Herd, sich wundernd, was sie mit dieser hatte machen wollen.

Sie vergaß, dass ihre Tochter sie einmal im Monat besuchen kam und so verharrte sie jedes Mal, wenn sie den Schlüssel im Schloss der Eingangstüre klimpern hörte, mit angehaltenem Atem an Ort und Stelle, mit der Hand nach einer möglichen Waffe tastend.

Sie vergaß, dass dreimal in der Woche eine Frau vom Pflegedienst nach ihr schaute, eine junge Frau aus dem Osten, die zuerst klingelte, bevor sie den Schlüssel in das Schloss steckte und dann mit ihrem starken Akzent nach ihr rief.

Sie vergaß, wo sie die Bücher, die sie las, hingelegt hatte und wenn sie dann ein Buch an einem unmöglichen Ort fand, im Blumentopf der Orchidee auf dem Fensterbrett, in der Schublade mit den Socken im Schlafzimmer, im Schirmständer im Flur, konnte sie sich nicht erklären, wie dieses dahingekommen war.

Sie vergaß nicht nur die Bücher.

Sie vergaß, welcher Wochentag war.

Sie vergaß, dass sie Enkelkinder hatte.

Sie vergaß, wann Winter und wann Sommer war.

Sie vergaß, wenn sie spazieren ging, wohin sie hatte gehen wollen.

Sie vergaß, wie sie wieder zu ihrem Haus zurückkam.

Sie vergaß, was sie alles vergessen hatte.

Und weil sie so viel vergaß, sollte sie an einen Ort, an welchem das Vergessen normal war. An dem es nicht schlimm war, wenn man ein Buch in einen Blumentopf legte. Oder in eine Schublade mit Socken. Oder in einen Schirmständer.

Eine Seniorenresidenz.

Ein Seniorenwohnsitz.

Ein Seniorenheim.

Ein Altenheim.

Ein Abstellgleis.

Mit Rund-um-die-Uhr-Pflege.

Ihre Tochter hatte ihr alles erklärt. Wie sie dort wohnen würde, in einem Einzelzimmer, schon komplett möbliert, sie müsste gar nichts mehr mitbringen, sei das nicht schön? Und jeden Tag gäbe es in dem Aufenthaltsraum ein buntes Programm, malen, basteln, einfache Spiele, Gymnastik natürlich auch. Und einmal im Monat einen Ausflugstag, der sei sehr beliebt, habe ihr die freundliche Frau gesagt, die sie durch das Heim, also die Residenz, geführt hatte. Drei Mahlzeiten und am Nachmittag Kaffee und Kuchen, beim Essen würde sehr auf Qualität geachtet werden. Und…

Und all das und noch vieles andere sagte ihre Tochter zu ihr.

Sie hörte ihrer Tochter zu.

Aber im nächsten Moment hatte sie all das schon wieder vergessen.

Als ihre Tochter wieder gegangen war, setzte sie sich in ihren alten Sessel im Wohnzimmer.

Sie saß einfach nur da.

Das Licht von draußen wanderte langsam über den Boden, kletterte an der Schrankwand entlang, kroch über die Regale mit den Büchern, immer verfolgt von den Schatten des Fensterrahmens, des Blumentopfs der Orchidee, des Umrisses ihres Sessels.

Sie saß so lange da, bis die Schatten das Licht eingeholt hatten und zu einem einzig großen Schatten verschmolzen. Erst dann erhob sie sich und ging durch das Haus. Es war ihr egal, dass es dunkel war. Sie musste nichts sehen. Sie kannte das Haus gut. Sie war in diesem Haus aufgewachsen.

Sie kannte die Stellen, an welchen der Boden zu knarren pflegte, sobald man sein Gewicht darauf verlagerte. Sie wusste, wo die Türschwellen waren, über die ein Fremder leicht stolperte. Sie konnte die Lichtschalter blind finden, wenn sie denn Licht gebraucht hätte.

Langsam ging sie die Räume ab.

Einer nach dem anderen.

Das Schlafzimmer.

Die Küche.

Das Gästezimmer.

Das Bad.

Die Abstellkammer.

Das Wohnzimmer.

Das Arbeitszimmer.

Und immer wieder dazwischen, die Verbindung der Räume:

Der Flur.

Der Flur, dessen Dielen vor der Schwelle zum Arbeitszimmer knarrten.

Sie wog nicht besonders viel. Aber ihr Gewicht reichte aus, um das Holz unter ihren Füßen zu einem tiefklingenden Ächzen zu bringen.

Sie war wieder zwölf Jahre alt.

Die Tür des Zimmers war verschlossen. Ihr Vater arbeitete dahinter. Sie hatte sich angeschlichen und wollte hören, was er tat. Aber die Dielen verrieten sie.

Sie hielt den Atem an.

Langsam öffnete sich die Tür vor ihr.

Sie durchschritt in der Dunkelheit das Arbeitszimmer. Auch wenn sie nichts sah, wusste sie, dass alles noch genauso aussah wie früher.

Früher, als ihr Vater noch lebte und dort gearbeitet hatte.

Eigentlich war seine richtige Arbeit in einer Fabrik gewesen. Dort hatte er Möbel gebaut. Aber zu Hause hatte er das gemacht, was er wirklich liebte.

Er reparierte Instrumente.

Er hatte sich im Haus eine kleine Werkstatt eingerichtet und bezeichnete die als Arbeitszimmer. In einem Regal stapelten sich mehrere Dutzende von kleinen Holzkisten, in welchen er die unterschiedlichsten Ersatzteile aufbewahrt hatte.

Sie wusste, dass sie in ihnen verschiedene Schrauben, Klappen und Polster finden würde, alle in einer von ihm erschaffenen Ordnung. Dem Regal gegenüber war sein Tisch, auf welchem er die Instrumente auseinander genommen hatte, um sie zu reparieren. Unten am Tisch waren Schubladen angebracht, in welchen sich seine Werkzeuge befanden.

Er hatte hauptsächlich Holzblasinstrumente repariert, aber auch ab und zu Zupfinstrumente wie eine Gitarre.

Die Tür öffnete sich weiter.

Immer noch wagte sie es nicht zu atmen.

Dann stand er vor ihr. Die Augenbrauen standen eng beieinander, nur durch eine Falte, die sich ihren Weg von der Stirn bis zur Nase suchte, getrennt. Die Falte verschob sich. Sie wurde weicher, glatter, bis sie schließlich ganz verschwunden war. Stattdessen vertieften sich kleine Gruben um seine Mundwinkel herum.

Er ließ sie hinein.

Auf seinem Tisch lag eine auseinander genommene Oboe. Neugierig betrachtete sie die vielen Einzelteile. Sie verstand nicht, woher ihr Vater wusste, wie er alles wieder zusammenfügen musste, sodass danach wieder ein Ganzes entstand. Ein Ganzes mit welchem man Töne spielen konnte.

Es war alles so wie früher.

Das Regal, der Tisch, seine Werkzeuge.

Und doch war es anders.

Nicht nur weil er nicht mehr da war.

Nicht nur weil keine zu reparierenden Instrumente mehr da waren.

Es war anders wegen ihr. Sie hatte sich verändert. Die Welt um sie herum hatte sich verändert.

Das einzige was so war wie früher, waren die Bilder, welche sie in sich trug. Das Bild, wie sich ein zwölfjähriges Mädchen an eine Tür anschleicht. Das Bild, wie aus einer Falte Gruben werden. Das Bild, wie sich das Mädchen über einen Tisch beugt. Das Bild vieler kleiner Einzelteile.

Der Mond warf einen blassen Schleier in das Zimmer hinein, der wie Seide über den Fensterrahmen auf den Boden hinabfloss, sich über den Tisch ausbreitete, um dann in den Schatten der Ecken zu verschwinden.

Die Bilder in ihr lösten sich auf wie der Schleier in den Schatten.

Sie wollte sie festhalten, aber die Konturen verschwammen nur noch mehr, bis nichts mehr da war.

Sie atmete tief ein, sie versuchte den schwachen Geruch nach Holz und Arbeit wieder zu finden, doch es gelang ihr nicht.

Der Schleier wanderte.

Wie als würde er sacht gezogen werden, wandelte er durch den Raum. Er floss am Regal hinauf, über die Oberfläche der Holzkisten, immer weiter, bis er bei einem Gegenstand länger verweilte.

Der Schleier hüllte den Gegenstand in ein silbrig weißes Gewand und der Gegenstand gab dem Gewand seinen Glanz.

Er war nicht besonders groß.

Aus einer Kugel erwuchs ein gerader Stamm, der sich bald schon in zwei gleich lange Äste aufgabelte, die sich parallel verlaufend etwas entgegenzustrecken schienen.

Sie griff danach.

Der Gegenstand passte in ihre Handfläche. Auf dem Stamm waren ein Buchstabe und eine Zahl eingraviert. Sanft fuhr sie mit dem Daumen darüber.

Dann nahm sie ihn am Stamm und schlug einen der Äste gegen das Regal. Sie spürte die Vibration der Äste und hielt den Gegenstand an ihr Ohr.

Ein schwingender Ton erklang.

Er nahm ihr den Gegenstand aus der Hand.

Sie wollte wissen, was es mit diesem auf sich hatte. Er erklärte ihr, dass sie ihn nur unten berühren dürfe und ihn gegen etwas Hartes schlagen müsse. Er schlug mit dem Gegenstand gegen den Tisch und hielt ihn an ihr Ohr.

Seine kleinen Gruben um die Mundwinkel vertieften sich, als er sie beobachtete.

Der Ton schwang stetig weiter.

Sie hatte das Gefühl, als schwänge er durch ihren Kopf, wie ein endloses ewig gleiches Band zog er sich durch sie hindurch. Und dieses Band zog die Bilder hervor.

Er zeigte ihr, dass wenn sie mit der Kugel des Gegenstandes den Körper der Gitarre berührte, der Ton sich verstärkte.

Ein lauter schwingender Ton.

Ein starkes Band und die Bilder.

Nicht alle Bilder.

Und auch nicht alle Einzelheiten.

Aber dennoch.

Sie waren wieder da.

Sie lächelte.

Am nächsten Morgen war ihre Tochter da.

Sie wollte, dass sie damit anfing, sich Sachen hinzurichten. Für den Umzug. In ihr neues Zuhause.

Da sie sich nicht schnell genug dazu rührte, fing ihre Tochter an selbst Sachen aus ihren Schränken zu holen. Sie stapelte sie alle auf dem Bett. Hauptsächlich Kleider. Ein paar Bücher. Eines hatte sie im Schirmständer gefunden. Ein paar Fotos. Kosmetiksachen. Ein wenig Schmuck.

Dann holte sie den Koffer. Es passte alles hinein. Ein kleines Stückchen Leben. In einem Koffer.

Ob sie noch etwas mitnehmen wolle.

Sie stand im Flur. Und sah sich um.

Jede einzelne Tür. Jede Schwelle.

Das Haus, in welchem sie aufgewachsen war.

Ein Leben.

Erinnerungen.

Klänge.

Sie schüttelte den Kopf.

Ihre Hand umschloss fest die Stimmgabel.

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