“Man begreift, dass das eigene Land einen im Stich gelassen hat”

Das Jahr begann für die Bevölkerung Kasachstans mit sehr aufreibenden Tagen und Wochen, in denen Proteste in Unruhen umschlugen und weitreichende politische Folgen nach sich zogen. Auch viele Augsburger:innen bangten um ihre Verwandten und Freunde, die sie aufgrund von Internetblockaden nur schwer erreichen konnten.

Valentina, die eigentlich anders heißt, hat sich bereit erklärt mit uns über das Erlebte zu sprechen. Sie selbst lebt mit ihrem Mann und ihren zwei kleinen Kindern in Almaty, der am schwersten von den Unruhen betroffenen Stadt Kasachstans.

Ausgebranntes Rathaus in Almaty
Ausgebranntes Rathaus in Almaty ©Kalabaha1969

presstige: Fangen wir von vorne an, wie hast du von den Protesten erfahren?

Valentina: Am vierten Januar habe ich über WhatsApp und Telegram mitbekommen, dass sich auf dem Platz der Republik, dem Hauptplatz in Almaty, Menschen versammeln, wusste aber noch nichts weiter. Am nächsten Morgen bekam mein Mann einen Anruf aus der Arbeit, er soll zu Hause bleiben, denn über der Stadt war der Ausnahmezustand verhängt worden. So ging der Tag los und mir wurde bewusst, dass etwas Ernstes passierte.

Wie ging es weiter? Wie hast du die Tage der Unruhen erlebt?

Nach dem Anruf haben wir erst mal versucht, über das Internet an Informationen zu kommen, doch keine Webseite, kein Messenger war mehr aufrufbar. Mithilfe eines VPN konnte ich dann doch ins Internet und habe erfahren, dass die Regierung geschlossen zurückgetreten ist. Ich habe Bilder von brennenden Autos und Protestzügen aus der Stadt gesehen. Da wurde mir klar, dass etwas Außergewöhnliches vor sich geht, was es so vorher nicht gegeben hat. Sicher, es hat in der Stadt immer wieder kleine Kundgebungen und Demonstrationen gegeben, aber nicht in diesem Ausmaß. Nach und nach habe ich von verschiedenen Protesten in der Stadt erfahren, auch außerhalb des Zentrums. Eine Bekannte von mir hat an einem friedlichen Demonstrationszug am Rande der Stadt teilgenommen, bis Chaos ausbrach und auch Tränengas gegen die Demonstrierenden zum Einsatz kam.
Am Nachmittag wurde auf einem Telegram-Kanal live vom Platz der Republik gefilmt. Ich konnte kaum fassen, was ich da sah, eine große Menschenmenge war dabei in das Rathaus einzudringen und kurz darauf brannte es in einem der Fenster. Und dann Cut. Das Internet war plötzlich abgestellt, da half auch kein VPN mehr. Zum Glück funktionierte noch die Telefonverbindung. Ich habe an den Tagen so viel telefoniert wie schon lange nicht mehr. Wir haben uns alle daran erinnert, dass man ja telefonieren und SMS schreiben kann.

Nun war das Internet gekappt, wie hast du dich weiter über die Lage informieren können, funktionierte das Fernsehen?

Nein, ich konnte auch nicht fernsehen, da unser Fernseher nur über das Internet funktioniert. Ich habe aber einen Journalisten im Bekanntenkreis, den ich nach den neuesten Entwicklungen gefragt habe. Er hatte zwar auch kein Zugang zum Internet, bekam aber die Nachrichten von einem Nachrichtendienst per SMS zugeschickt und leitete sie an mich weiter. So habe ich erfahren, dass unser Präsident Tokajew nun dem Sicherheitsrat vorsteht. Ich dachte mir nur, wie bitte? Wo ist Nasarbajew? Immerhin hatte er bis dahin diese Position inne und sollte auf Lebenszeit das Amt bekleiden. Mindestens genauso unfassbar war, dass dem Chef des Geheimdienstes, Karim Massimow, Hochverrat vorgeworfen und er von seinem Posten entlassen wurde. Auch von der Besetzung des Flughafens habe ich über SMS erfahren. Überprüfen ließ sich natürlich nichts. Ansonsten habe ich mit Freund:innen und Bekannten telefoniert und so mitbekommen, dass Geschäfte geplündert und zerstört worden sind. Zum Beispiel beobachteten sie aus dem Fenster, wie eine Gruppe junger Männer die Fenster eines Supermarktes einschlugen und den Laden leer räumten. So etwas ist wohl überall in der Stadt geschehen. Keiner hinderte sie daran. Es ist der Eindruck entstanden, dass die Stadt den Plünderungen einfach überlassen wurde.

Was war mit der Polizei und den Soldaten, haben sie die Stadt nicht geschützt?

Ach, ich glaube, dass sie mit anderen Dingen beschäftigt waren. Und ja, Soldaten wurden durchaus an die Orte der Ausschreitungen geschickt. Aber es herrschte ein großes Chaos und die Soldaten waren teilweise noch sehr jung. In den auf Social Media verbreiteten Videos habe ich gesehen, wie sie geschlagen wurden. Scheinbar haben Menschen aus der Bevölkerung Soldaten versteckt oder in Zivilkleidung umgezogen, um sie vor der Gewalt zu schützen.

Wie hast du ansonsten diese Tage verbracht?

Mein Mann und ich sind fast die ganze Zeit in unserer Wohnung gesessen. Unsere Wohnung liegt sehr zentral. Wir haben immer wieder Schüsse und Explosionen gehört, unser Viertel blieb aber wie durch ein Wunder von den gewalttätigen Ausschreitungen verschont. Diese Tage haben mich sehr an die Zeit im Lockdown erinnert – nur zu Hause sein – allerdings ohne Internet und ohne Fernsehen. Als für ein paar Stunden das Internet wieder zugänglich war, haben wir uns gleich Filme heruntergeladen. Wenn ich ehrlich bin, habe ich sehr viel geschlafen an diesen Tagen. Meine Kinder waren bei ihren Großeltern außerhalb der Stadt und wegen meines Jobs bin ich normalerweise sehr viel auf Social Media, also war das für mich ganz persönlich eine einzigartige Möglichkeit mich von der sonst unablässigen Informationsflut zu erholen.

Ich habe gelesen, dass die meisten Lebensmittelgeschäfte geschlossen hatten, hattet ihr Probleme, Lebensmittel zu bekommen?

Das war anfangs tatsächlich sehr beängstigend. Du musst nämlich wissen, dass wir hier in Almaty und wahrscheinlich in ganz Kasachstan alle Online-Bezahlsysteme nutzen. Wir haben eine App von einer Bank auf dem Handy und bezahlen damit unsere Einkäufe. Weil es einfach sehr bequem ist. Also hat im Grunde die ganze Stadt vergessen, was Bargeld ist. Und nun passiert so was! Die App funktioniert nicht, die Banken haben geschlossen, viele Automaten sind zerstört. Zum Glück haben mein Mann und ich haben es geschafft, ein bisschen Bargeld abzuheben. Aber wir wussten nicht, wie lange die Lage anhält, wann die Banken wieder öffnen, die App wieder funktioniert. Und da standen wir also mit 3000 Tenge (≈ 6€, Anmerk. d. Red.) und in der Situation überlegst du natürlich gut, ob du lieber die teuren Tomaten kaufst oder einfach nur Brot. Aber gerade Brot wie viele andere Grundnahrungsmittel gab es oftmals nicht und die Geschäfte haben früh geschlossen. Irgendwann haben mein Mann und ich uns getraut, ein Geschäft in der Parallelstraße aufzusuchen und trafen auf dem Weg Leute, die uns gleich gefragt haben, ob wir denn Eier suchen, sie wüssten nämlich, wo es welche gibt. Man muss wissen, dass Kasachstan ein sehr freundschaftliches Land ist. Alle haben einander geholfen und sich gegenseitig Tipps gegeben, wo man was gerade findet.

Ist es inzwischen bekannt, was an den Tagen passiert ist? Wer die gewalttätigen Gruppen waren?

Schau, bei uns gibt es keine freien Medien. Das bedeutet, dass die einzige Version der Geschehnisse die offizielle ist. Diese lautet, dass 20 000 Terroristen die Stadt angegriffen haben mit dem Ziel, das Land zu destabilisieren. Aber das glaubt niemand. Niemand glaubt, dass es Terroristen waren. Dann bleiben uns nur noch Gerüchte. Es gibt Gerüchte davon, dass es sich um einen gewaltsamen Machtwechsel gehandelt haben soll, davon, dass es Auseinandersetzungen innerhalb der Regierung gegeben haben soll. So war das wahrscheinlich auch. Aber es gibt keine Möglichkeit, sie zu überprüfen.

Wie nimmst du die Stimmung in der Stadt seit Ende der Unruhen wahr?

Viele sind verunsichert und haben viele Zweifel. Manche überlegen sich, das Land zu verlassen. Die Ereignisse haben in der Tat ein tiefes Gefühl von Unsicherheit hinterlassen. Man begreift, dass das eigene Land einen im Stich gelassen hat. Gleichzeitig sind wir wieder im Alltag angekommen, die Stadt normalisiert sich, alle gehen wieder ganz normal arbeiten. Man sieht noch zugenagelte Schaufenster und Brandspuren, die an die Ereignisse erinnern, aber keine Soldaten mehr, die in den ersten Wochen nach den Unruhen noch vor der Stadt patrouillierten.

 

 

 Anmerk.: Das Gespräch wurde auf russisch geführt und von der Autorin ins Deutsche übersetzt.

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