Eigentlich steht beim Eurovision Song Contest jedes Jahr die Musik und das Zusammenkommen der Künstler*innen im Mittelpunkt. Warum ist dieses Jahr dann alles außer Kontrolle geraten?
Ein Skandal jagt den nächsten…
Bereits im Vorfeld war abzusehen, dass dieses Jahr vor allem politische Diskussionen den Contest dominieren würden. Diverse Länder, unter anderem Island und Schweden, forderten die EBU (den Ausrichter des Song Contests) auf, aufgrund der Vorfälle im Gazastreifen Israel vom diesjährigen ESC auszuschließen. Die EBU hingegen positionierte sich ihrerseits auf der Seite von Israel und machte bereits im Vorhinein klar, dass auch dieses Jahr das Land wieder beim Contest vertreten sein wird. Und dann wurde der israelische Beitrag veröffentlicht.
In dem ursprünglich eingereichten Song „October Rain“ ging es klar um die Vorfälle rund um den 7.Oktober in Israel. Bereits hier zeigten mehrere NGOs und Künstler*innen aus Schweden großenUnmut über den Beitrag. Auch die EBU war nicht überzeugt und lehnte den Beitrag aufgrund des „politischen Inhalts“ ab. Dies sorgte zwischenzeitlich für eine diplomatische Krise, da sich der israelische Rundfunk ursprünglich weigerte, den Song zu überarbeiten. Jedoch wurde der Song –nachdem die israelische Politik Druck machte – zu dem schließlich akzeptierten Song „Hurricane“ überarbeitet, und Israels Teilnahme am diesjährigen Contest stand nichts mehr im Wege.
Die dunkelsten 48 Stunden der ESC-Geschichte:
Doch damit waren natürlich nicht alle politischen Bedenken geklärt. Wie chaotisch der 10. und 11. Mai werden sollten war wohl für niemanden vorherzusehen. Immer wieder kam es in Malmö im Vorlauf zu pro-palästinensischen Kundgebungen. Polizeieinsatzkräfte aus ganz Europa wurden in die südschwedische Stadt bestellt, um einer potenziellen Terrorgefahr vorzubeugen. Auch mehrere Acts anderer teilnehmender Länder positionierten sich immer wieder kritisch gegenüber der Teilnahme Israels am Contest. Auch in der Halle selbst kam es während den öffentlichen Proben und Auftritten zu massiven Buhrufen, was dazu führte, dass sich die EBU gezwungen sah, künstlich eingespielten Applaus abzuspielen, um diese zu übertönen. Während den Pressekonferenzen beherrschte daher nur dieses Thema die Fragen der Journalist*innen.
Während all dies geschah, kam zudem noch ans Licht, dass die EBU sich mit dem niederländischen Künstler und Mitfavoriten auf den Gesamtsieg Joost Klein auseinandersetzte, da es zu „einem Zwischenfall“ während des zweiten Halbfinals am Donnerstag gekommen war. Bis heute ist noch nicht ganz geklärt, worum es ging. Es kam allerdings offensichtlich zu einer verbalen Auseinandersetzung zwischen dem niederländischen Star und einem Crew-Mitglied. Somit war es ein großer Schock, als Samstag mittags, weniger als 8 Stunden vor dem großen Finale, die Niederlande disqualifiziert wurden. Der Aufschrei im Netz und auch vor Ort ließ nicht lange auf sich warten. Joost, welcher zu den Favoriten nicht nur bei den Buchmacher*innen, sondern auch unter den Fans zählte, erhielt zahlreiche Solidaritätsbekundungen von Mitgliedern der Rundfunkanstalten und teilnehmenden Künstler*innen am Contest. Diese forderten öffentlich die EBU dazu auf, die Entscheidung rückgängig zu machen. Dies war endgültig der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Der teilnehmende niederländische Rundfunk boykottierte daraufhin den ESC und weigerte sich, die Jurypunkte an die anderen Acts zu verteilen, was dazu führte, dass die Jurypunkte von der EBU selbst (unter massiven Buhrufen der Arena) vergeben werden mussten.
Zeitgleich mit der Disqualifikation der Niederlande kam ans Licht, dass die Schweiz, Irland und andere Länder hinter verschlossenen Türen in einer Krisensitzung mit der EBU die Vorfälle der letzten Stunden aufarbeiteten. Die teilnehmenden Delegationen teilten der EBU mit, dass sie sich unter der Präsenz Israels nicht wohl fühlten und dass es zu Auseinandersetzungen zwischen der israelischen Delegation und diversen Künstler*innen gekommen ist, darunter auch der Vorwurf, dass Künstler*innen gegen ihren Willen vom israelischen Rundfunk gefilmt wurden. Bis heute wurde von Seiten der EBU zu diesen Vorwürfen noch keine offizielle Stellungnahme veröffentlicht. Teilweise stand sogar eine komplette Absage des großen Finales im Raum, welche dann aber noch verhindert werden konnte.
Was sich in diesen 48 Stunden aufzeigte, war, dass es die EBU nicht erfolgreich schaffte, durch Statements die diversen Krisen zu kontrollieren. Teils stundenlang wurden die Fans, aber auch die teilnehmenden Rundfunkanstalten nicht über aktuelle Entwicklungen informiert und wenn es Statements von Seiten der EBU gab, waren diese meistens zu wage oder erklärten nicht die ganze Situation. Die EBU hat hier eindrucksvoll gezeigt, dass sie nicht für solche Vorfälle gewappnet war und man kann nur hoffen, dass aus diesem PR-Desaster für den ESC die richtigen Schlüsse gezogen werden.
Ein diverser Jahrgang (Gratulation an die Schweiz)
Was die Geschehnisse rund um Malmö so schade macht ist der Fakt, dass der diesjährige Jahrgang mit einer der diversesten und kreativsten Jahrgänge seit langem ist. Egal ob Synthpop aus Spanien, ethnische Musik aus Armenien und Griechenland, Rap aus Estland, klassischer 90s Eurodance aus Finnland, Rock gemischt mit Folklore aus Norwegen, Techno aus den Niederlanden oder Rap und Operngesang aus der Schweiz: Die musikalische Vielfalt beim ESC, worum es ja im Vorfeld eigentlich gehen sollte, war dieses Jahr auf jeden Fall großartig. Ich kann nur empfehlen, sich mit den Liedern des diesjährigen Contests auseinanderzusetzen.
Auch das Siegerland, die Schweiz, konnte zurecht auf der Poleposition einfahren. In Nemos Song „the code“ geht es um deren nichtbinäre Identität und wie Nemo es schaffte, sich selbst nach langer Suche endlich zu finden. Meiner Meinung nach definitiv ein vielseitiges Lied von hoher Qualität, dass den Sieg mehr als verdient hat. Vielleicht ein kleiner Trost, für einen sonst sehr politisch und emotional aufgeladenen ESC.