Das ist ein Trauma, er ist ein Narzisst und haben wir alle Depressionen …?  

Psychische Gesundheit ist in den sozialen Medien angekommen und das ist grundsätzlich eine gute Entwicklung. Junge Menschen sprechen offener über ihre Belastungen, teilen ihre Erfahrungen aus der Therapie und bauen damit das Stigma rund um psychische Erkrankungen Stück für Stück ab. Beim Scrollen kommt es jedoch zu einer Welle von Diagnosen, „Trigger“-Warnungen und Weisheit aus dem Therapie Zimmer. Wie  hilfreich ist diese Flut tatsächlich? Ist Tiktok die richtige Platform um sich über diese Themen zu informieren? 

 Wer kennt es nicht, man scrollt durch seine For you Page und es fallen Begriffe wie Trigger, Trauma, Anxiety und Narzisst. Begriffe, die eigentlich aus der Psychologie stammen, sich aber in den Wortschatz der Jugendlichen etabliert haben und oft an falscher Stelle benutzt werden. Halbwissen dieser Art ist gefährlich, es gehört zur Pop-Psychologie. Hierbei werden für komplexe Zusammenhänge einfache Erklärungen gesucht, dabei wird werden Krankheitsbilder trivialisiert und verzerrt dargestellt. 

Was Trauma wirklich bedeutet 

In der Psychologie beschreibt ein Trauma ein Ereignis, das so überwältigend ist, dass es die psychische Unversehrtheit eines Menschen massiv verletzt. Oft handelt es sich um extreme Situationen wie Gewalterfahrungen, sexuellen Missbrauch, Unfälle, Krieg oder Naturkatastrophen. Die Folge kann eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) sein, verbunden mit Flashbacks, Vermeidungsverhalten, Schlafstörungen und tiefgreifender innerer Unruhe.Wenn auf Social Media jedoch bereits ein schlechtes Date oder eine Trennung als „traumatisch“ bezeichnet wird, führt das zur Verharmlosung einer ernsten psychischen Erkrankung und macht Betroffenen das Gefühl, nicht mehr ernst genommen zu werden. 

Trigger: Mehr als ein unangenehmer Moment 

Der Begriff Trigger stammt aus der Traumatherapie. Gemeint sind spezifische Reize, z. B. ein Geräusch, Geruch oder Bild, die intensive emotionale oder körperliche Reaktionen bei traumatisierten Menschen auslösen. Ein Trigger kann eine Person direkt in eine traumatische Erinnerung zurückkehren lassen.                  Heute wird der Begriff jedoch inflationär für Alltägliches genutzt: ein unangenehmer Kommentar wird schnell als „triggernd“ bezeichnet. Dabei wird übersehen, dass ein echter Trigger nicht einfach nur „nervt“, sondern eine ernstzunehmende Belastungsreaktion mit Panikattacken, Dissoziationen oder Kontrollverlust hervorrufen kann. 

Anxiety: Modewort oder Krankheit? 

Auch Anxiety (der englische Begriff für Angst) hat seinen Weg in unseren Alltag gefunden. Was viele nicht wissen: In der Psychologie bezeichnet „Anxiety Disorder“ eine generalisierte Angststörung, also eine chronisch übersteigerte, meist nicht klar an eine konkrete Situation gebundene Angst. Sie kann mit starken körperlichen Symptomen einhergehen: Herzrasen, Atemnot, Zittern, Schlaflosigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten. Wer das Wort „Anxiety“ aber nutzt, um Nervosität vor einer Prüfung oder ein komisches Bauchgefühl zu beschreiben, reduziert eine ernsthafte Erkrankung auf eine alltägliche Emotion. 

Narzissmus: Eine Diagnose, keine Beleidigung 

Der Begriff Narzissmus erlebt auf Social Media aktuell Hochkonjunktur, vor allem im Kontext toxischer Beziehungen. Was häufig übersehen wird: Narzissmus ist nicht einfach nur ein Synonym für Selbstverliebtheit oder Arroganz. In der Psychologie wird darunter eine narzisstische Persönlichkeitsstörung (NPS) verstanden, eine seltene, tiefgreifende Störung des Selbstbildes. Betroffene leiden unter einem übersteigerten Bedürfnis nach Bewunderung, mangelnder Empathie, einem instabilen Selbstwert und oft extremer Kränkbarkeit. Die Diagnose betrifft weniger als ein Prozent der Bevölkerung und ist keine pauschale Erklärung für einen gescheiterten Ex-Freund. Wenn „Narzisst“ zur Standard-Beleidigung wird, verliert das Wort jede Tiefe.

Selbstdiagnosen im Sekundentakt

Besonders bedenklich wird es, wenn psychische Erkrankungen auf Social Media zur Selbstdiagnose-Olympiade werden. „5 Anzeichen, dass du ADHS hast“ oder „Wenn du das tust, hast du ein Kindheitstrauma”, solche Formate sind unterhaltsam, aber gefährlich. Sie suggerieren, dass eine komplexe Diagnose auf Basis kurzer Videos und subjektiver Beobachtung getroffen werden kann. Doch psychische Erkrankungen sind nicht selbsterklärend. Sie entstehen aus einem Zusammenspiel von biologischen, psychischen & sozialen Faktoren und ihre Diagnose erfordert Fachwissen, Zeit und oft einen langen Prozess der Abklärung. Die Verkürzung auf Social Media entwertet diesen Weg und verstärkt das Gefühl von Betroffenen, sich rechtfertigen zu müssen. 

Ein persönlicher Blick: Zwischen Offenheit und Oberflächlichkeit 

Für mich persönlich ist die Offenheit im Umgang mit psychischer Gesundheit Fluch und Segen zugleich. Einerseits hilft sie mir, offen mit Freund*innen über meine Therapie und meine Diagnosen zu sprechen. Viele von ihnen haben durch Social Media schon erste Berührungspunkte mit psychischen Erkrankungen gehabt, das erleichtert Gespräche und hilft mir dabei mich nicht mehr dafür zu schämen. 

Aber genau da beginnt auch die Problematik. Oft lese ich Kommentare unter Videos wie: „Ich glaub, ich hab das auch“ oder „Krass, ich dachte das ist normal“. Das macht etwas mit mir. 

Eine Diagnose ist nicht einfach ein Begriff, den man sich selbst zuschreibt. Sie ist das Ergebnis von Jahren voller Unsicherheit, Gesprächen mit Psycholog*innen, Tests und Selbstreflexion. Und wenn dieser Prozess auf ein Reel reduziert wird, fühlt es sich an, als ob all das nichts zählt. Viele der Symptome, die dort genannt werden, sind unspezifisch, falsch interpretiert oder einfach nur menschlich. Nicht jede Unruhe ist ADHS, nicht jede schlechte Woche eine Depression. Und nicht jede toxische Beziehung ist das Ergebnis einer Persönlichkeitsstörung. 

 

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