Eine Reise in die 70er und zurück
Es ist Prüfungszeit. Müde sitze ich an meinem Schreibtisch und lege meinen Kopf für einen Moment auf den dicken Wälzer vor mir. Eine kurze Pause, dann bin ich bestimmt wieder fit. Vor meinem inneren Auge tanzen Bilder vom Studentendasein, wie ich es gerne hätte: Zeit für Selbstverwirklichung und Partys statt Arbeitsstress und Notendruck. Ob das früher wohl anders war? Über diesem Gedanken schlafe ich ein…
Von Annika Schmidt
…und schrecke kurz darauf wieder hoch. Ich befinde mich mit ein paar Freunden am Kuhsee, wir feiern und grillen im Schnee. Doch was haben die eigentlich an? Der Blick auf eine Zeitschrift, die im Feuer vor sich hin kokelt, verrät mir: Ich bin im Jahr 1974. Ein ganz schön krasser Szenenwechsel! Und denkbar schlechtes Timing, ich müsste doch dringend weiter für die Klausur lernen! Wobei Moment, ich träume doch, die Klausur schreibe ich erst im Jahr 2012. Doch warum feiern wir hier alle so ausgiebig, anstatt sich für ihre Klausuren vorzubereiten? Am Lagerfeuer entdecke ich eine Kommilitonin, die ich danach frage. Als Reaktion ernte ich nur einen irritierten Blick. Ich erinnere mich: In den 70ern wird noch auf Diplom studiert. Es gibt nur vereinzelt alle paar Semester Klausuren und Hausarbeiten, nicht wie heute ein ganzer Marathon am Semesterende. Nur zu gern ergebe ich mich in mein neues Schicksal und feiere mit den anderen bis in die frühen Morgenstunden.
Moderne Technik ade
Noch etwas verkatert vom letzten Abend taumle ich in Richtung Schreibtisch, um meine E-Mails zu checken. Doch dann der Schock: Mein Notebook ist weg! Panisch suche ich nach meinem Handy, um mein Leid einer Freundin zu klagen. Ebenfalls Fehlanzeige. Langsam dämmert es mir: Ich bin immer noch im Jahr 1974. Später an der Uni sitze ich in einer Vorlesung, natürlich ohne Powerpoint-Präsentation, und bekomme vom Mitschreiben wunde Finger. Mein Sitznachbar meint: „Du weißt schon, dass du dann in einem Jahr 100 Seiten Diplomarbeit mit der Schreibmaschine tippen musst, oder? Wie willst du das schaffen, wenn dich das hier schon so strapaziert?“ Eine gute Frage.
Rebellion und Diskussion
Am Nachmittag treffe ich mich mit meiner Arbeitsgruppe. Schnell sind wir in eine Diskussion verwickelt. Meine Kommilitonen fühlen sich durch ihre Eltern und die Kirche eingeengt und wettern dagegen. Auch die Politik ist ihnen teilweise zu konservativ geprägt und deswegen ein Dorn im Auge. Es steht zur Debatte, ob wir demnächst an einer Demonstration teilnehmen sollen. Ich bin begeistert von so viel Diskussionsfreude und mische eifrig mit. So habe ich mir das Studium immer vorgestellt! Als wir auf die Pläne für unsere berufliche Zukunft zu sprechen kommen, bin ich überrascht. Während dieses Gesprächsthema im Jahr 2012 meist zu akuten Panikattacken oder Nervenzusammenbrüchen führt, bleiben die Kommilitonen in meinem Traum gelassen. Obwohl gerade alle von der Ölkrise sprechen, rechnen sie sich ganz gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt aus. Die Glücklichen!
Risse in der Traumwelt
Die Vorlesung am Abend lasse ich aus und treffe mich stattdessen mit ein paar Freunden in einem Café zum Kartenspielen. Das ist ein Leben! Doch trotz allem plagen mich einige Sorgen: Meine Abschlussnote setzt sich nur aus Diplomarbeit und Diplom zusammen. Was, wenn ich gerade während der Diplomprüfungen nicht ganz fit bin? Und wie soll ich den Stoff mehrerer Semester sinnvoll strukturieren und lernen? Ob das weniger Stress ist als in meinem vororganisierten Dasein als Bachelorstudentin? Ich bin mir nicht mehr so sicher. Ob ich hier die Disziplin hätte, mich auch ohne ständige Kontrolle durch Noten vertieft mit den Inhalten auseinanderzusetzen? Ich habe meine Zweifel und beginne das Jahr 2012 zu vermissen…
Aus der Traum
…ich werde von meinem klingelnden Handy geweckt und habe Kopfschmerzen von der harten Unterlage. Doch ich bin erleichtert, wieder zurück zu sein, besonders, als ich mein Notebook neben mir an seinem Platz stehen sehe. In meinem Traum war die Studienzeit einerseits so frei und unbeschwert, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Aber wie in jeder Zeit hatten die Studenten auch ihre Probleme, beispielsweise mit dem Zeitmanagement in Prüfungszeiten. Um einige Illusionen ärmer und Erkenntnisse reicher wende ich mich wieder meinem Studium im Jahr 2012 zu. Ich klappe mein improvisiertes Kopfkissen auf und vertiefe mich in die Lektüre.