Studieren zwischen Fjord und Berg

Bevor ich nach Norwegen kam, erwartete ich ein Land mit atemberaubender Natur, teuren Preisen und wenig Sonnenschein. Norwegen ist meinen Erwartungen gerecht geworden, auch wenn es hier mehr Sonne und weniger Schnee gibt als befürchtet. In fünf Monaten als Erasmus-Studentin habe ich Land und Leute kennengelernt.

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“Danke für die Nominierung!“, ruft mir ein norwegischer Freund von seiner Facebook-Chronik entgegen und stürzt – nein, nicht ein Bier hinunter – sondern sich selbst in einen norwegischen Fjord. Das „Social Beer Game“ hat es in Norwegen nicht weit gebracht. Die Norweger entwickeln ihr eigenes Spiel: Innerhalb von 24 Stunden muss man in einem Gewässer, bevorzugt einem Fjord, baden gehen, ansonsten ist eine Wettschuld fällig.

Social Fjord Game?

Aus mehreren Gründen ist das Spiel typisch norwegisch. Erstens: Alkohol ist unglaublich teuer. Ein ganzes Bier zu exen grenzt an Geldverschwendung. Zweitens: Norweger pflegen ihr sportliches Outdoor-Image. Viele Frauen tragen im Alltag Jogging Tights, selbst im Supermarkt. Drittens: Norweger machen gerne ihr eigenes Ding. So haben die norwegischen Wähler zweimal (1972 und 1994) einen Beitritt zur EU abgelehnt. Im Alltag sieht man das an den scheinbar wahllos schwankenden Lebensmittelpreisen. Ein amerikanischer Student erzählte mir in meiner ersten Woche, er habe mal ein Sonderangebot gesehen, das nur zwanzig Minuten verfügbar war. Danach verlangte der Supermarkt wieder den Normalpreis. Anfangs nahm ich ihn nicht ernst, doch wenn Orangen plötzlich 20 Kronen statt den sechs Kronen vom Vortag kosten, hinterlässt das Spuren in der Shoppingmentalität. Sehe ich beim Einkaufen ein gutes Angebot, nehme ich es inzwischen sofort mit. Am besten gleich mehrere Packungen.

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Studieren in Norden Europas

In erster Linie bin ich natürlich nicht zum Einkaufen hierher gekommen, sondern zum Studieren. Knapp 9000 Menschen wohnen im kleinen Ort Volda, die ansässige Hochschule zählt 4000 Studenten. Als Medienstudentin habe ich mir zwei Kurse zu Fotografie und dem Produzieren von Kurzfilmen ausgesucht. Beide sind wesentlich praktischer ausgerichtet als die Kurse an der Uni zu Hause und es ist einfach, Kontakte mit anderen Studenten zu knüpfen. Bei Fotoshootings für unsere Portfolios laufen wir Räder schlagend durch den Wald und imitieren Familienfotos im Hochschul-eigenen Studio. Im Filmseminar produzieren wir zwei Kurzfilme vom Drehbuch bis zur Nachbearbeitung. Meine norwegische Filmcrew versucht, für mich beim Englischen zu bleiben. Wenn sie doch in ihre Muttersprache abdriften, sitze ich so lange lächelnd nickend dabei, bis sich einer von ihnen wieder an meine mangelnden Norwegisch-Kenntnisse erinnert.

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Ohne Alkohol sind Familienfeiern doch langweilig!

Allgemein sind Norweger eher zurückhaltend, alltäglicher Small-Talk behagt ihnen nicht, aber zurücklächeln tun viele schon. Gemeinsame Geselligkeit ist der Schlüssel: Nach ein, zwei Bier („øl“) laufen die Gespräche mit Norwegern plötzlich wie geschmiert. Sie werden mutiger und sprechen bierselig schon einmal eine Abendessens- oder zumindest After-Party-Einladung („nachspiel“) aus. Vieles über norwegische Gewohnheiten lerne ich von den Norwegern, mit denen ich mir eine Gemeinschaftsküche teile. Während der Eine seine „Grandiosa“-Tiefkühlpizza genießt (davon gibt es sogar eine Weihnachtsedition), der Andere, ein Outdoor-Aktivitäten-Student, gesunde Sportler-Nahrung zubereitet und meine rumänische Mitbewohnerin und ich Borș-Suppe löffeln, beschreiben sie ihre Sommerjobs für Ölkonzerne und ihre typischen Familienfeiern. „Ostern verbringen wir alle zusammen auf unserer Hütte und betrinken uns gemeinsam. Letztes Jahr sind mein Onkel, mein Vater und ich mit einem Ice Scooter in einen zugefrorenen See eingebrochen“, erzählt der eine grinsend. Ohne Alkohol seien Familienfeiern doch wahnsinnig langweilig, ergänzt der andere. Wirklich widersprechen kann ich ihm da nicht.

presstige-Autoren berichten aus aller Welt Immer wieder gehen unsere Redakteure für ein Semester oder ein Praktikum ins Ausland. In der Serie “Korrespondentenbericht” schildern sie anschließend ihre Eindrücke und Erlebnisse. Alle Folgen sind hier gesammelt.

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Dauerlicht und laufende Wasserhähne

Schwerer zu akzeptieren für meinen deutschen Ordnungssinn, ist der norwegische Umgang mit Energie. Nachts sind alle Straßen hell erleuchtet und öffentliche Gebäude sind meist mit Bewegungsmeldern ausgestattet. Auch in den Haushalten merkt man, dass Norweger sehr wenig für Strom zahlen. Als ich bei zwei Mitgliedern aus meiner Filmgruppe zu Besuch bin, fällt mir auf, dass beide das Licht in ihren fensterlosen Bädern rund um die Uhr angeschaltet lassen. „Ich mag es einfach nicht, in so ein dunkles Loch zu gehen,“ begründet die eine und mein pingeliges deutsches Inneres schüttelt ungläubig den Kopf. „Andere Länder, andere Sitten,“ denke ich und stoppe den Wasserhahn, der schon seit einer Minute ungenutzt vor sich hin läuft. So schnell kann ich meine deutschen Angewohnheiten doch nicht ablegen.

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Ein Ort zwischen Berg und Fjord

Volda liegt etwa in der Mitte der norwegischen Westküste. Die Häuser schmiegen sich an die umgebenden Hänge der Sunnmøre-Alpen und blicken über den Voldsfjord. Jeden Morgen, wenn ich meine Vorhänge zurückziehe und die Aussicht auf Berg und Fjord frei wird, hüpft mein Herz ein wenig vor Freude. Auf einen Gipfel zu steigen und auf die umliegenden Berge hinunterzuschauen, macht mich wesentlich glücklicher, als von einem Hochhaus aus eine Großstadt zu überblicken. Manchmal vermisse ich es, gemütlich in einem Café zu sitzen oder einen Cocktail trinken zu gehen. Doch es überwiegen die Momente, in denen ich von der Stille in den Wäldern, der Erhabenheit der Landschaft und der langen Helligkeit des norwegischen Sommers fasziniert bin.

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Es lebe das einfache Leben

Neben den norwegischen Studenten, mit denen ich an Projekten gearbeitet habe, möchte ich vor allem die Kontakte zu den anderen internationalen Studenten nicht mehr missen. Etwa 130 Studenten aus über dreißig Nationen studieren, wohnen und feiern zusammen in Volda. Die norwegischen Preise schmerzen all unseren Geldbeuteln und so gewöhnen wir uns den „Zigeuner-Lebenstil“ an. Wir fahren per Anhalter in die umliegenden Städte, weisen uns gegenseitig auf Sonderangebote im Supermarkt hin und backen jedem Geburtstagskind einen Kuchen aus der billigsten Schokokuchen-Backmischung. „Ich zahl‘ doch keine 50 Kronen für ein Bier im Club!“, sind wir uns einig, trinken daher selbstgebrauten Cider und veranstalten eine Mini-Karaoke-Party in unserer Küche.

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Was am Ende zählt, sind die Menschen um einen herum. Ohne die Leute hier, wäre Volda für mich nur halb so schön und das Studium nur halb so interessant. Eine liebe Freundin sagte mir vor meiner Abreise, ich solle so viel wie möglich ausprobieren und nicht zu viel nachdenken. An meinem Geburtstag habe ich es also auch getan: „Danke für die Nominierung!“, habe ich gerufen und bin kopfüber in den Voldsfjord gesprungen wie eine echte Norwegerin.

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