Die Wahrheit lauert an jeder Ecke, oder zumindest jemand, der sie uns nahelegen möchte. Egal ob in den Abendnachrichten, der Uni oder abends in der Kneipe: Überall will man uns erklären, wie die Welt funktioniert. Dabei haben sie alle zwei Dinge gemeinsam, denn sie warnen vor unischeren Zeiten und meinen es eigentlich doch nur gut. Warum es uns trotzdem häufig mulmig dabei wird und wir ihnen dennoch immer wieder ihre Wahrheiten abkaufen? Reden wir darüber.
Manchmal öffnet das Fernsehen ein Fenster in die reale Welt. Letzten Donnerstag zeigte das Bayerische Fernsehen zum Tode des Regisseurs Helmut Dietl seine legendäre Satire „Schtonk“, die einen der größten Presseskandale der deutschen Geschichte aufgreift. 1983 veröffentlichte der Stern unter lautem Jubel die vermeintlichen Tagebücher Adolf Hitlers. Bereits eine Woche darauf stellte sich jedoch heraus, dass die Dokumente aus der Feder eines Fälschers und dabei nicht einmal sonderlich gut gemacht waren. Bis heute fragen sich die Deutschen, wie ein Nachrichtenmagazin auf diesen plumpen Trick hineinfallen konnte. Auch wenn dieser Vorfall inzwischen dreißig Jahre zurückliegt, kam mir die Geschichte sehr aktuell vor.
Die Hitlertagebücher sind ein Symbol für das bis heute umstrittene Verhältnis der Medien zur Wahrheit im weitesten Sinne. Wir sind es inzwischen gewohnt, dass die Massenmedien unser Bild von der Welt prägen. Dahinter steckt das Eingeständnis in so komplexen Zusammenhängen zu leben, dass wir sie ohne fremde Hilfe nicht mehr entschlüsseln können. Ob es um russische Außenpolitik oder den Arbeitsmarkt vor unserer Haustür geht: Die Medien wollen uns erklären, was passiert ist und welche Schlüsse wir daraus ziehen können. Dabei gibt es durchaus Unterschiede, weshalb es sich viele Menschen genau überlegen, welcher Nachrichtensendung oder Zeitung sie ihr Vertrauen schenken.
Mit der Entscheidung, für ein bestimmtes Medium gehen wir zugleich einen wichtigen Deal ein. Wir gestehen ihm damit nämlich zu, dass die Ereignisse und Zusammenhänge über die es berichtet in dem Sinne wahr sind, dass sie für unseren Alltag gelten. Was in den Nachrichten kommt ist auch so passiert. Wenn wir den Medien die Wahl überlassen, was für uns wichtig ist, machen wir sie zu einer Institution, zu deren wesentlichen Aufgaben es gehört, glaubwürdig zu sein. Ein Medienskandal enttäuscht unser Vertrauen in diese Partnerschaft. Überspitzt formuliert macht er uns Angst, die Welt falsch zu verstehen. Das gilt auch heute noch. Deshalb hat Jan Böhmermann so viel Verwirrung mit der Behauptung erzielt, den Mittelfinger des griechischen Finanzministers Janis Varoufakis gefälscht zu haben. Andere Medien hatten diese Geste nämlich zuvor zum Beweis für die respektlose Haltung der Regierung Griechenlands gegenüber der deutschen Politik erkoren.
Mir ist aus eigener Erfahrung nur zu gut bewusst, dass niemand alles wissen und einordnen kann. Deshalb möchte ich gar nicht in eine Grundsatzkritik gegenüber den Medien verfallen, die auch mir den Zugang zur Welt erleichtern. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass wir uns häufig zu sehr von diesen fremden Wahrheiten abhängig machen. Wir sind immer wieder auf die Hilfe anderer angewiesen, die in bestimmten Bereichen besser informiert sind oder mehr Erfahrung haben. Allerdings ist es immer noch unsere eigene Entscheidung, wem wir eigentlich vertrauen wollen – und dabei geht es nicht nur um die Wahl einer Tageszeitung.
Kolumne: Müller will reden
Meinung ist tot? Nicht mit uns, denn unser Chefredakteur Michael Müller ist überzeugt, dass es Dinge gibt, die man nicht wissen kann, aber über die es sich zu reden lohnt. In Zeiten harter Fakten glaubt er an das lose Mundwerk, denn wohin sonst mit all den gesammelten Informationen? Mal geht es um Wichtiges, mal um den Rest, aber immer gilt: Keine Angst, Müller will nur reden. Die Kolumne erscheint immer donnerstags und wird von Isabell Beck illustriert. Alle Folgen von “Müller will reden” zum Nachlesen.
Denken wir zum Beispiel mal an den Unialltag. Das Bewusstsein um ungewisse Zeiten und einen entsprechend unsicheren Arbeitsmarkt hat längt Einzug in die Hörsäle gehalten. Deswegen bin ich sicherlich nicht der einzige, der bereits von Dozenten zur Wahl eines Seminars beglückwünscht wurde. Gemeint war damit in der Regel, sich zum Erwerb bestimmter Fähigkeiten entschieden zu haben, die sich in der Berufspraxis als äußerst hilfreich erweisen würden. Hinter solchen Aussagen steckt sicher eine gute Absicht. Sie sollen Studenten die Zukunftsängste nehmen und ihnen das Gefühl vermitteln, trotz allem etwas Sicheres zu erlangen. Das einzige Problem: Auch wenn es oft anders klingt, gelten sie nicht für alle Zuhörer.
Der Hinweis, dass bestimmte Fähigkeiten später nützlich werden, kann nämlich auch wie die Ermahnung klinge, dass es ohne sie nicht gehe. Hierin liegt ein kleiner, doch bedeutender Unterschied. Viele Studenten fühlen sich deshalb von ihren Dozenten unter Druck gesetzt und befürchten, ihr Leben aus der Hand zu geben. Die Angst vor einer ungewissen Zukunft ist so nur einer neuen Ohnmacht gewichen, die scheinbar ungefragt fordert, sich an einen fremden Königsweg anzupassen. Allen, die dieses Gefühl kennen möchte ich ein Gedankenspiel anbieten, dass mir sehr geholfen hat. Dazu gehört eine einfache Frage: Muss ich das gerade wirklich tun oder glaube ich nur daran?
Wir können nämlich unsichere Zeiten immer auch als freie Zeiten wahrnehmen. Wenn der Erfolg eines bestimmten Lebensentwurfes mit dem Verstand nicht mehr abgeschätzt werden können, bedeutet dass anders gesagt, dass es viele Wege mit ähnliche Chancen gibt. Es bleibt uns gar nichts anderes übrig als frei und aus dem Bauch heraus zu entscheiden, an welchen Weg wir glauben wollen. Natürlich helfen uns Vorbilder an der Uni und im Alltag dabei, zu beurteilen, welches Leben wir uns wünschen. Aber auch hier haben wir die freie Wahl, denn sowohl der Topmanager mit Büro in Frankfurt als auch der Maler mit Atellier in Berlin oder die jungen Eltern im eigenen Garten, beweisen uns, dass ihr Weg zum Erfolg führen kann. Auch wenn uns diese manchmal schwierige Entscheidung niemand nehmen kann, hat sie etwas Beruhigendes. Hin und wieder kann es mir egal sein, ob ein Mittelfinger echt ist oder nicht – solange ich aus ganzem Herzen daran glaube.