Wer fantasiert, braucht den Psychologen? Visionen sind was für Kinder, Spinner und Fanatiker? Wir sind diesen häufigen Meinungen einmal nachgegangen und haben festgestellt: Arbeitskräfte mit Fantasie gehören nicht in Behandlung, sondern in die Führungsetage. Warum das so ist und wie wir im Kleinen schon damit anfangen, ist doch ein guter Grund, zu reden.
Vor vielen Jahren habe ich eine sehr nette Literaturkritik erhalten. In der Grundschule war ich ein riesiger Fan von allem, was mit Geistern zu tun hatte. In der dritten Klasse beschloss ich, dass zwischen Dracula und Frankenstein noch genug Platz für meine eigene Geschichte war. Auf einigen Seiten verfasste ich einen Text, der vom Geist eines alten Schlossherren handelte, dem ein tapferer Abenteurer ein goldenes Schwert abjagte. Als ich damit fertig war, legte ich sie mit klopfendem Herzen meiner Klassenlehrerin vor. Ihre Bewertung: Du hast ja so eine tolle Fantasie, mach da später mal was draus!
Im Laufe der Jahre ist die Fantasie in wenig in Vergessenheit geraten. Nicht nur, weil der Moment schon so lange zurückliegt, sondern vor allem, weil ich nur noch selten dafür gelobt werde. Sicherlich, kreative Lösungen stehen immer noch hoch im Kurs. Nur wird dabei eher geistige Flexibilität und seltener künstlerisches Talent verlangt. Doch handelt es sich dabei noch um die gute alte Fantasie?
Soviel vorweg, es gibt Ähnlichkeiten. Fantasie ist, vereinfacht gesagt, die Fähigkeit mit reiner Vorstellungskraft eine gedankliche Welt zu schaffen, die sich von der Realität unterscheidet. Reizvoll ist vor allem die Vorstellung einer alternativen Welt, in der wir bestimmte Aspekte, die uns am Alltag stören, behoben haben. Mit neun Jahren fand ich die Vorstellung von Geisterhäusern einfach spannender als einfach nur leer stehende Stadtrandvillen. Generell gestehen wir am ehesten Kindern zu, sich mit Fantasien die Langeweile zu vertreiben. Darin liegt aber gleichzeitig die Gefahr, das Fantasieren als kindische Spielerei abzutun, aus der man mit dem Erwachsenwerden hinauswächst. In Wahrheit kann es aber viel mehr als Geistergeschichten erzählen.
Fantasie belebt den Markt
Gerade in einer Zeit, die Kreativität so verehrt wie die unsere, ist es merkwürdig, dass die Fantasie so einen schlechten Stand hat. Wenn es um berufliche Qualifikationen geht, wird immer wieder betont, dass wir in einer täglich komplexer werdenden Welt leben. Globalisierung und wachsende Vernetzung stellen die Wirtschaft immer wieder vor ganz neue Aufgaben. Gefragt ist, wer dann innovative Lösungen parat hat. Ohne Fantasie wird das allerdings schwierig. Immerhin ist sie die Fähigkeit, die echte Innovationen erst ermöglicht. Bevor ich etwas ganz anders angehen kann als bisher, muss ich es mir erst einmal anders vorstellen können. Künstlerisches Talent hilft mir vielleicht, eine Innovation gut zu verpacken. Geistige Flexibilität, sie in bestehende Strukturen einzupassen. Mutter der Idee ist aber die Fantasie.
Was in einem Unternehmen gilt, kann dabei auch auf andere Bereiche der Gesellschaft angewendet werden. Hier darf ruhig groß gedacht werden. Psychologisch betrachtet nutzen wir die Fantasie unter anderem, um Wünsche auszuleben, die wir in der Realität unterdrücken müssen. Eine Fantasie kann in diesem Sinne auch unsere persönliche Vorstellung einer besseren Welt sein – eine Vision. Manchmal wollen wir es aber nicht beim Träumen belassen. Dann versuchen wir unsere Vision umzusetzen, sei es in der Politik, der Kunst oder der Wirtschaft. Damit wird die Fantasie zu einer ganz wichtigen Triebfeder unserer Gesellschaft. Haben wir keine Vorstellung davon, wie eine andere Welt aussehen könnte, treten wir auf der Stelle. Die Geschichte zeigt, dass Gesellschaften ohne solche Visionen, schnell von der Zeit und der Konkurrenz überholt werden. Gerade ein Land, das so stolz auf seine Innovationen ist wie Deutschland, sollte also dringend die Fantasie fördern. Das gilt auch an Universitäten, die sich ja gerade seit Bologna rühmen, die Macher und Entscheider von morgen zu bilden.
Kolumne: Müller will reden
Meinung ist tot? Nicht mit uns, denn unser Chefredakteur Michael Müller ist überzeugt, dass es Dinge gibt, die man nicht wissen kann, aber über die es sich zu reden lohnt. In Zeiten harter Fakten glaubt er an das lose Mundwerk, denn wohin sonst mit all den gesammelten Informationen? Mal geht es um Wichtiges, mal um den Rest, aber immer gilt: Keine Angst, Müller will nur reden. Die Kolumne erscheint immer donnerstags und wird von Isabell Beck illustriert. Alle Folgen von “Müller will reden” zum Nachlesen.
Von Gedankenspielen zum Handfesten
Wenn wir verstehen wollen, warum die Fantasie trotzdem einen so stiefmütterlichen Ruf hat, hilft vielleicht ein Zitat des Ex-Bundeskanzlers Helmut Schmidt: „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen.“ Mit diesem Satz soll er sich gegen den Vorwurf uninspirierter Politik gewehrt haben. Er hat insoweit recht, dass eine Fantasie die Gesellschaft vor allem dann voranbringt, wenn sie auch umsetzbar ist. Allerdings ist das Wesen der Fantasie, um die es hier geht, keineswegs weltfremd. Sie geht ja gerade von der Realität und ihren Schwächen aus. Eine Vision in diesem Sinne schafft keine knallbunte Parallelwelt, in die wir uns flüchten. Sie hält uns eine mögliche Alternative zu Zuständen vor Augen, die uns unzufrieden machen. Selbst, wenn wir eine Idee manchmal nicht direkt umsetzen können, sind wir deshalb kein Fall für den Psychiater. Auch ideale und abstrakte Werte haben einen wichtigen Leitcharakter in einer Gesellschaft. Natürlich sollten wir uns den realen Grenzen unserer Fantasien immer im Auge behalten, bevor wir nach ihnen handeln.
Fantasie ist übrigens auch kein nebulöses Talent, mit dem man geboren wird oder nicht. Vielmehr ist sie zu weiten Teilen eine analytische Fähigkeit, die wir erlernen und üben können. Man könnte es auch so formulieren: Wer Fantasie hat, kann um Ecken über die Zukunft nachdenken. Das ist übrigens auch nicht erst in der großen Politik hilfreich, sondern bringt uns auch im Alltag eine ganze Menge. Mit ein wenig Fantasie stehen uns für die eigene Zukunft ganz neue Möglichkeiten offen. Wir beklagen uns viel darüber, dass die Welt für junge Menschen so wenig Anhaltspunkte bietet. Durch die Fantasie können wir aus der Verunsicherung Chancen machen – im Privaten und im Beruflichen. Einen positiven Effekt spüren wir übrigens sofort. Wenn die besorgten Verwandten fragen, was wir mal mit unserem Leben anfangen wollen, müssen wir nicht mehr betreten schweigen.