Es gibt Widersprüche, die sind scheinbar nicht aus der Welt zu schaffen. Deshalb tauchen sie in regelmäßigen Abständen im Fernsehen und an den Stammtischen auf. Dort treffen sich dann die üblichen Verdächtigen und halten sich altbekannte Argumente entgegen. Einer dieser Klassiker ist die Qualität der Bildung. An der Frage, ob die gerade nachrückende Generation nun klüger oder dämlicher denn je ist, scheiden sich immer wieder die Geister. Als Studenten Mitte zwanzig haben wir das zweifelhafte Vergnügen, zurzeit genau dazu zugehören. Vielleicht sollten wir also mal darüber reden.
Als Deutsche sind wir stolze Bürgerinnen und Bürger einer Bildungsrepublik. Zumindest hat das anlässlich des Bildungsberichtes 2014 die Bundesregierung verkündet. Tatsächlich sehen die Zahlen darin gar nicht so schlecht aus. Gemessen am Grad des Schulabschlusses weist der Trend nach oben. Besonders im Aufwind sind Abitur und Fachabi, die 57 Prozent aller Schulabschlüsse ausmachen. Bei den Schulabbrechern zeigte sich sogar schon 2013 einen Rückgang auf gute fünf Prozent. Da wundert es kaum, dass das Statistische Bundesamt für das Wintersemester 2014 mit 2,7 Millionen Studierenden an deutschen Universitäten neue Höchststände verkündete. Auch an der Uni Augsburg ist der Trend kaum zu übersehen. Neubauten auf dem Campus, volle Gänge und noch vollere Straßenbahnen sprechen ihre eigene Sprache. Momentan zählt die Uni 19.927 Studierende und all die Erweiterungsmaßnahmen zeigen, dass es noch mehr werden können. Auch wenn ein begonnenes Studium keinesfalls zwingend beendet wird, sprechen solche Zahlen eine deutliche Sprache. Auch in meinem Freundeskreis studieren die allermeisten, (Fach-)Abi haben sie alle. Auf dem Papier war vielleicht keine junge Generation so gebildet wie wir. Wer soll uns da noch für dumm halten?
Kolumne: Müller will reden
Meinung ist tot? Nicht mit uns, denn unser Chefredakteur Michael Müller ist überzeugt, dass es Dinge gibt, die man nicht wissen kann, aber über die es sich zu reden lohnt. In Zeiten harter Fakten glaubt er an das lose Mundwerk, denn wohin sonst mit all den gesammelten Informationen? Mal geht es um Wichtiges, mal um den Rest, aber immer gilt: Keine Angst, Müller will nur reden. Die Kolumne erscheint immer donnerstags und wird von Isabell Beck illustriert. Alle Folgen von “Müller will reden” zum Nachlesen.
Überraschenderweise gibt es eine ganze Menge Bildungskritiker, die genau das tun. Nun ja, streng genommen halten sie uns nicht für dumm im eigentlichen Sinne, ja nicht einmal für ungebildet. Sie kritisieren nämlich nicht in erster Linie die fleißigen Lerner, sondern das Bildungssystem, in dem sie stecken. Aus ihrer Sicht ist unser Problem nicht, dass wir nichts lernen, sondern auf die falsche Weise. Der deutsche Psychologe, Psychiater und Hochschullehrer Manfred Spitzer hat 2012 ein Buch geschrieben, in dem er den Zustand meiner Generation als „Digitale Demenz“ bezeichnet. Der Kern seiner These liegt darin, dass die Kapazitäten unseres Gehirns verkümmern, wenn wir das Denken in die Technik auslagern. Stark verkürzt heißt das: Wer Informationen nur noch abrufbereit aus seinem Smartphone bezieht, wird sich schon bald nichts mehr merken oder geschweige denn erarbeiten können. Interessanterweise steht das in einem gewissen Widerspruch zur Position eines ganz anderen großen Bildungskritikers: Der Wirtschaft. Die fordert nämlich (ebenfalls seit längerem) mehr Praxisbezug in der Bildung. Dazu gehört, dann auch der gezielte und versierte Umgang mit Computern aller Art. Zu guter Letzt wären da noch Kritiker aus dem humanistischen Lager, die den Verlust wesentlicher Kulturgüter beklagen, gerade weil die Bildung sich jetzt schon so sehr an der Wirtschaft orientiert. Sie betonen die Bedeutung des Wissens um Kultur, Politik und Geschichte als Teil einer gesellschaftlichen Bildung, die über das Erstellen eines Jahresabschlusses hinaus geht. Klingt ganz schön verwirrend und das ist es auch. Entgegen der Zahlen scheint es doch einige Gründe zu geben, aus denen wir vielleicht doch nicht so klug sind. Aber wer hat nun Recht?
Die Stunde der Wahrheit
Vielleicht ein kleiner Test: Durch wie viele Länder fließt der Rhein? Wie viele Oratorien schrieb Joseph Haydn? Wann brach der dreißigjährige Krieg aus und was ist ein Ablativus absolutus? Wer das in unserer Generation weiß, ohne zu googeln, ist wahrscheinlich die Ausnahme. Schon in der Generation unserer Eltern könnte das ein wenig anders aussehen. In vielen Familien gibt es da diesen Onkel, der immer noch alle Formen des lateinischen Wortes „hic“ herunterbeten kann. Meistens kennt er sogar noch den passenden Merkspruch dazu, obwohl er in den letzten drei Jahrzehnten nichts davon in seinem Alltag gebraucht hat. Allerdings sei auch die Gegenfrage erlaubt: Was ist LTE und wo kann ich es bekommen? Was ist eine Allnet-Flat? Was ist Shareconomy und muss ich fürs Couchsurfen ans Meer? Spätestens wenn wir besagtem Onkel diese Fragen stellen, schlägt unsere Stunde. Stopp, das nötige Wissen, um einen Handyvertrag auszusuchen, und das große Latinum kann man doch nicht vergleichen! Vielleicht doch, wenn man sich fragt, warum wir eigentlich bestimmte Dinge lernen und andere nicht.
Was zählt, ist unter dem Strich
Ob es uns gefällt oder nicht, das meiste lernen wir, weil wir es brauchen und nicht aus purem Vergnügen. Die Wirtschaft redet zum Beispiel so viel in der Bildung mit, weil es viele von uns für sinnvoll erachten, etwas zu lernen, was uns später hilft, Geld zu verdienen. Das gilt besonders für ein Land wie Deutschland, das einen großen Teil seiner wirtschaftlichen Stärke dem technischen Know-How verdankt. Für den einzelnen ist Bildung damit ein Weg, in der Gesellschaft aufzusteigen. Damit das gelingt, sollten wir vor allem wissen, was gefragt ist – und das ändert sich mit der Zeit. Verglichen mit früheren Zeiten hat die humanistische Bildung dabei an Stellenwert verloren. Höhere Bildung galt früher als Zeichen gesellschaftlichen Interesses und als Indiz dafür, es einmal zu etwas bringen zu wollen. Heute hingegen stehen die Zeichen auf praktisch anwendbaren Fähigkeiten. „Hohe Bildung“ heißt dann schnell einmal „totes Wissen“. Wenn wir Vokabeln im Internet nachschlagen anstatt sie auswendig zu lernen, sind wir also nicht dümmer sondern angepasster.
Das ist übrigens keine neue Erkenntnis. Hans Magnus Enzensberger hat das schon in seinem Aufsatz „Über die Ignoranz“ festgestellt – und zwar im Jahr 1988. Was er dort schrieb, gilt noch immer: Modernes Wissen ist weder weniger umfangreich noch simpler gestrickt als sein klassischer Gegenpart. Es handelt nur von anderen Dingen. Weil wir anders denken, denken wir nicht gleich schlechter. Übrigens hat er noch eine Sache festgestellt: Wirklich unerträglich sind selbst Bildungslücken nur dann, wenn wir sie krampfhaft nicht zugeben wollen. Deshalb gehe ich jetzt Joseph Haydn googeln.