Aussteiger, das sind doch diese Typen, denen nichts recht ist! Vielen kommt die Vorstellung, ein geregeltes Leben über Bord zu werfen, um die eigenen Träume zu verwirklichen, verrückt vor. Wer auf unsere Gesellschaft pfeift, braucht sich auch nicht zu wundern, wenn er hier nichts wird. So lautet die allgemeine Meinung – und doch erzählt immer wieder einmal jemand vom großen Traum, alles umzukrempeln. Auch in der Uni und deshalb wird es Zeit, einmal über das Aussteigen zu reden.
„Wer aussteigen will, kann aussteigen. Das mag ja sein. Doch wer einmal aussteigt, kommt nie wieder rein.“ Diese Warnung hat der Kabarettist Rainald Grebe für die Hauptfigur seines Songs „Autonomie“. Dicht gefolgt von der Beschreibung eines Lebens in einem alten Zirkuswagen, das von Rotwein aus dem Tetra Pak und Phrasen über die Freiheit zusammengehalten wird. Mit diesem Bild vor Augen scheint es gar keine Frage, wie richtig die mahnenden Worte sind. Wer der Gesellschaft unbedingt so den Laufpass geben will, kann kaum erwarten irgendwann wieder mit offenen Armen empfangen zu werden. Selber schuld, so ein Aussteiger.
Kolumne: Müller will reden
Meinung ist tot? Nicht mit uns, denn unser Chefredakteur Michael Müller ist überzeugt, dass es Dinge gibt, die man nicht wissen kann, aber über die es sich zu reden lohnt. In Zeiten harter Fakten glaubt er an das lose Mundwerk, denn wohin sonst mit all den gesammelten Informationen? Mal geht es um Wichtiges, mal um den Rest, aber immer gilt: Keine Angst, Müller will nur reden. Die Kolumne erscheint immer donnerstags und wird von Isabell Beck illustriert. Alle Folgen von “Müller will reden” zum Nachlesen.
Na ja, zumindest sieht das der Duden ganz ähnlich. Dort gilt Aussteiger als Synonym für Außenseiter, Eigenbrötler, Gammler, Sonderling oder Freak. Alles nicht gerade angenehm. Aber ist das Aussteigen wirklich nur ein Selbstverwirklichungstrip für Einsame und Spinner? Die Presse ist da teilweise durchaus anderer Meinung – und zwar dort, wo man es am wenigsten erwartet, im Wirtschaftsteil. So erzählt zum Beispiel das Handelsblatt die Erfolgsgeschichte von Unternehmensberaterinnen, die von einem Tag auf den anderen lieber Innenarchitektinnen sind. Es ist die Geschichte einer Existenzgründerin, die eine vielversprechende, aber unbefriedigende Karriere gegen einen Job getauscht hat, der ihr mehr Spaß macht. Aus der Gesellschaft ist sie nie ausgestiegen, genau wie andere Aussteiger, die sogar ganz im Gegenteil gerade wieder in ihre Mitte zurückkehren. Das gilt zum Beispiel für Menschen, die einer Sekte oder der extremistischen Szene den Rücken kehren. Erfolgreiche Kleinunternehmer oder ehemalige Neonazis, die den Absprung geschafft haben, würden wir wohl kaum als Sonderlinge bezeichnen. Auch Rainald Grebes Warnung dürfte sie wohl eher kalt lassen, denn sie können ganz gelassen entgegnen: „Warum sollte ich denn auch zurück wollen?“
Die vielen Gesichter der Aussteiger
Ganz offensichtlich ist es mit dem Aussteigen also doch nicht so einfach, wie es der Duden nahelegt. Es gibt sehr viele verschiedene Arten, von denen bei Weitem nicht alle bedeuten, sich komplett aus dem gesellschaftlichen Leben zurückzuziehen. Außerdem finden manche davon anscheinend große Anerkennung, während andere eher belächelt werden. Was alle Aussteiger gemeinsam haben, ist der Wunsch, aus den Bahnen ihres bisherigen Lebens auszubrechen. Sie fühlen sich in ihren Routinen und in ihrem Umfeld nicht mehr wohl und treffen deshalb die Entscheidung, sich deutlich zu verändern. Zu dieser Entscheidung gehört sehr viel Mut, denn mit ihr gehen Aussteiger immer ein Risiko ein. Sie kehren ihrem beruflichen und sozialen Umfeld und damit auch all ihren Chancen und Perspektiven dort den Rücken. Sie lassen sich auf einen radikalen Neuanfang ein und riskieren teilweise sogar, von ihrem alten Umfeld dafür bestraft zu werden. Ganz deutlich wird das im Falle einer Sekte oder einer extremistischen Szene. Ein radikaler Ausstieg lässt sich oft nicht rückgängig machen. Wer sich drauf einlässt ist also vor allem sehr mutig.
In der Uni begegne ich einer ganzen Menge Aussteigern in spe, die diesen Mut wohl noch nicht gefasst haben. Als Student ist man inzwischen Teil einer ziemlich großen Bevölkerungsgruppe, die sogar immer noch wächst. Ein Studium gilt dabei spätestens seit Bologna für viele als ganz selbstverständlicher Einstieg in ein erfolgreiches Berufsleben. Umso größer sind die Bedenken aus dem Unibetrieb auszusteigen. Ein Studienwechsel oder gar ein Abbruch wird von vielen Studenten als sehr großes Risiko begriffen. Bekomme ich dann noch den Job, den ich mir wünsche? Oder gehe ich am Ende ganz leer aus? Trotz dieser Befürchtungen ist die Unzufriedenheit teilweise hoch. Das Fach ist nicht das richtige für mich. An der Uni ist alles viel zu abstrakt, was soll mir das später einmal bringen? Eigentlich würde ich gerne viel mehr Zeit in meine Band stecken, damit wir endlich durchstarten! Sätze dieser Art sind auf dem Campus keine Seltenheit. Hinter all diesen Aussagen steckt ein kleiner Aussteiger, der sich oft nicht gegen die Angst vor dem Risiko durchsetzt.
Schon in Ordnung, solange es nicht kitschig wird
Wir alle nehmen Rainald Grebes Warnung sehr ernst und doch habe ich meine Zweifel, ob er sie überhaupt so gemeint hat. Es gibt da nämlich andere Stimmen, die tatsächlich schon wieder aus der Wirtschaft kommen. Immer wieder betonen Unternehmen und Personalchefs öffentlich, dass ein gradliniger Lebenslauf eben nicht das Wichtigste sei. Gesucht werden Persönlichkeiten, die sich Gedanken gemacht haben, wo sie einmal hinwollen, und dementsprechend danach handeln. Zu diesem Prozess gehören natürlich auch Fehlentscheidungen und Veränderungen. Es bleiben so viele Möglichkeiten, im Kleinen auszusteigen. Wenn ich im nächsten Semester ein Seminar weniger belege, habe ich schon mehr Zeit für den Traum von der eigenen Band. Inzwischen gibt es sogar Stipendien, die gezielt nach den kleinen Aussteigern suchen, nur dass sie es Paradiesvogel nennen. Der Ausstieg bedeutet eben nicht immer, der ganzen Gesellschaft den Rücken zu kehren. Letztlich ist der Mann vor dem Zirkuswagen im Wald resignativer Kitsch, der mit den meisten von uns gar nichts zu tun hat. Deshalb sollte uns Rainald Grebes Warnung auch nicht einschüchtern. Gegen gute Ideen dürfte er sicher nichts haben, denn Kabarettist ist ja auch nicht der gewöhnlichste Job.