In einem gesunden Körper, lebt ein gesunder Geist. Ganze Heerscharen von Sportlehrern in abgenutzten Trainingsanzügen beglücken ihre Schützlinge mit dieser Lebensweisheit. Damit sind sie allerdings in guter Gesellschaft. Seit der Antike grübeln wir über das Verhältnis dieser scheinbaren Gegenspieler zueinander. Doch werden wir unserem Körper damit wirklich gerecht?
Manche Situationen bleiben im Gedächtnis haften. In meinem Fall gehört ein Moment aus dem Sportunterricht in der fünften Klasse dazu. Er spielt in einer nach Gummi und dem Schweiß ganzer Generationen riechenden Sporthalle, in deren Mitte ein kleines Sprungbrett und direkt dahinter ein Bock und ein Weichboden standen. Direkt neben mir knurrte mein Sportlehrer in der ganz eigenen Art dieser Berufgruppe: „Du schaffst das, wenn du nur willst!“ Es ist vorhersehbar, wie die Geschichte endet. Ich überwinde meine Scheu, nehme Anlauf und … renne mit genug Wucht gegen den Bock um den ganzen Aufbau umzuwerfen. Auch wenn ich es nicht wusste war dieser Moment und die daraus folgende schlechte Note mein erster unsanfter Kontakt mit griechischer Philosophie.
Richtig gelesen: Geistiger Vater aller Personal-Trainer ist niemand geringeres als der griechische Philosoph Platon. Er gestand dem Menschen neben dem Körper auch eine Seele zu, der er im Verhältnis der beiden auch gleich die Oberhand gab. Sie sei der Ort, an dem sich die Identität, der Wille und das Denken abspielen. Damit sei es auch Aufgabe der Seele, den Körper zu beherrschen. So war der Grundstein für eine Überzeugung gelegt, die uns noch heute von den Werbeplakaten der Fitnessstudios entgegenschlägt. Ein starker Geist formt sich den dazu passenden Körper.
Diese Erkenntnis klingt auf den ersten Blick nicht gerade bahnbrechend. Klar, geht eine geistige Entscheidung voraus, wenn wir in unserer Freizeit Sport treiben oder uns gesund ernähren. Um fit zu werden, müssen wir es wollen. Als Gegenspieler hält dabei meist der innere Schweinehund her, diese Personifikation aller menschlichen Schwäche. Egal, ob Fernsehratgeber, Hochglanzmagazine oder die Krankenkassen, sie alle haben dieses Fabelwesen auf die Fahndungsliste gesetzt – und hier wird es interessant. Denn plötzlich steht die platonische Beziehung zu unserem Körper unter Druck. Der Geist formt nicht nur den Körper, nein, er soll es gefälligst tun.
Tugendterror im Eigenbau
Genau genommen wenden wir Platons Logik so rückwärts an. Der Körper unseres Gegenübers gilt dann als Maßstab für dessen Willensstärke. Plötzlich hängt eine moralische Bewertung am Aussehen eines Körpers. Übergewicht ist die Frucht einer faulen oder maßlosen Lebensweise. Außerdem gibt es da ja auch noch die anderen Laster: Rauchen, Trinken, Faulenzen vor dem Fernseher, zu viel Sex? Alles pure Schwäche des Willens. Auch, wer sich zu wenig gönnt und zu dünn wird, hat im Umgang mit dem Körper versagt. Im heutigen Alltag klingt Platon nicht mehr Erhaben und selbstbestimmt. Es gilt der kategorische Imperativ der Fitnesskultur: Treibe stets so viel Sport, wie du es auch von anderen erwartest.
Hinter der Selbstverständlichkeit, mit der wir vom Äußeren auf den Charakter schließen, steckt ein gefährlicher Glaube an unsere Kontrolle. Wir behandeln den Körper nicht mehr wie einen Teil der Natur, sondern wie eine Maschine, die wir nach Herzenslust optimieren können. Der Glaube, dass unsere körperliche Leistungsfähigkeit allein von unserem Willen abhängt, ist jedoch eine Illusion. Wir verfügen über begrenzte Ressourcen, mit den wir klug haushalten sollten. Ob im Job, beim Sport oder auf Diät, stets setzt uns der Körper natürliche Grenzen. Wenn wir sie ständig überschreiten, optimieren wir uns nicht, sondern betreiben Raubbau an uns selbst. Der Geist kann den Körper nicht nur formen, sondern auch zerstören, bis hin zu psychosomatischen Erkrankungen.
Kolumne: Müller will reden
Meinung ist tot? Nicht mit uns, denn unser Chefredakteur Michael Müller ist überzeugt, dass es Dinge gibt, die man nicht wissen kann, aber über die es sich zu reden lohnt. In Zeiten harter Fakten glaubt er an das lose Mundwerk, denn wohin sonst mit all den gesammelten Informationen? Mal geht es um Wichtiges, mal um den Rest, aber immer gilt: Keine Angst, Müller will nur reden. Die Kolumne erscheint immer donnerstags und wird von Isabell Beck illustriert. Alle Folgen von “Müller will reden” zum Nachlesen.
Doch nicht so ganz platonisch?
Außerdem geben wir einen kostbaren Besitz aus der Hand, wenn wir den Körper komplett der sozialen Kontrolle unterwerfen. Die Beziehung, die wir zu ihm unterhalten, ist ebenso ursprünglich wie intim. Wenn wir ihm die Rolle eines Statussymbols für unsere Willenskraft zuweisen, sind es aber nicht mehr wir selbst, die diese Beziehung ausgestalten. Die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper hat dann oft gar nicht mehr direkt mit unserem Wohlbefinden oder unserer Gesundheit zu tun. Dabei wären genau das sinnvolle Maßstäbe, weil sie aus uns selbst kommen. Stattdessen eifern wir fremden Idealen nach, die allein schon deshalb oft nicht zu uns passen, weil wir uns quälen müssen, um ihnen näher zu kommen. So ist es die Gesellschaft, die unsere Körper formt.
Das hat dann auch nichts mehr mit Platon zu tun, der ja gerade die Seele und damit die eigene Identität zum Herrn über den Körper erklärt hat. Wenn wir ein entspanntes Verhältnis zu unserem Körper suchen, sollten wir ihn also erst einmal selbst kennen lernen. Das geht, wenn wir uns beim Blick in den Spiegel fragen, wer wir sind und nicht, wer wir sein sollten. Ein starker Wille formt sich einen gesunden Körper, in dem er sich wohlt fühlt. Diese Begriffe kennen deutlich mehr Schattierungen als nur die bekannten Modelmaße. Wer wirklich im ganz eigenen Körper lebt ist gesund, sexy – und lebt vielleicht auch mit einem geringeren Risiko für öffentliche Sportunfälle.