Buchtipp: „Das Gegenteil von Einsamkeit“ von Marina Keegan
Provokant, sarkastisch und melancholisch: Eigenschaften, die nicht nur auf die junge US-Autorin Marina Keegan selbst zutreffen, sondern auch auf ihre literarischen Figuren. In ihrem Bestseller „Das Gegenteil von Einsamkeit“ berührt sie mit Kurzgeschichten und regt mit ihren Essays zum Nachdenken an.
Marina Keegans Buch „Das Gegenteil von Einsamkeit“ ist allein deshalb etwas Besonderes, da sich hinter der erst 22-jährigen Autorin selbst eine tragische, aber bemerkenswerte Geschichte verbirgt. Tragisch, weil sie nur fünf Tage nach ihrem Abschluss an der Elite-Uni Yale bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Sie war auf dem Weg zum Geburtstag ihres Vaters, als ihr Freund am Steuer einschlief. Keegan starb noch am Unfallort; ihr Freund überlebte.
Bemerkenswert, weil sie während ihres Studiums nicht nur ihre eigenen Geschichten verfasste, sondern auch in der Literaturredaktion des New Yorkers arbeitete und für die Yale Daily News schrieb. Zwei ihrer Stücke wurden im Theater aufgeführt. Das alles klingt nicht nach einer jungen, erfolgreichen Frau, die genau weiß, was sie will. Wer jedoch ihre Geschichten liest und ganz besonders ihre Yale-Abschlussrede, mit der ihr Buch beginnt, lernt eine andere Marina Keegan kennen. Eine etwas unsichere Frau, mit der man sich identifizieren kann.
Früher aufstehen, weniger prokrastinieren
In ihrer Rede versucht sie ihre Gefühle kurz vor ihrem Abschluss in Worte zu fassen – eine Mischung aus Wehmut und Optimismus. Wer selbst Student ist und noch dazu kurz vor seinem Abschluss steht, findet sich mindestens in einem der Sätze wieder. Marina Keegan gelingt es, die Unsicherheit und Zukunftsangst zu beschreiben, die wohl prägend für unsere Generation ist: Keiner weiß, was er genau will, außer natürlich perfekt zu sein und in allem immer noch besser zu werden. Mehr Bücher lesen, früher aufstehen, weniger prokrastinieren. Wer kennt es nicht? „Einige von uns wissen genau, was sie wollen, und sie sind auf dem Weg dorthin“, schreibt sie. „Euch sage ich: Herzlichen Glückwunsch, aber ihr kotzt mich an.“
Damit gelingt ihr etwas, was sie auch mit ihren Kurzgeschichten und Essays schafft: Sie berührt ihre Leser und trifft einen Nerv. Wer sich jedoch erhofft, sich bei ihren Geschichten vor Lachen kugeln zu müssen, wird enttäuscht. Meistens regen sie zum Nachdenken an und sind eher deprimierend. Ziemlich deprimierend. Ihre Kurzgeschichten sind außerdem sehr unterschiedlich – von dem üblichen Liebesdrama, in der eine Frau erfährt, dass ihr Mann sie betrügt, bis zu einem Unterwasser-Abenteuer, ist alles dabei. Und eigentlich ist in fast jeder Erzählung irgendjemand stoned.
Ihre Kurzgeschichte „Vorlesen“ erinnert tatsächlich sehr an „Der Vorleser“ von Bernhard Schlink. Es handelt von einer alten Frau, die einen blinden Mann jede Woche besucht und ihm etwas vorliest, während sie dabei nacheinander ihre Kleidung auszieht, bis sie nackt ist. Eine weitere Erzählung spielt elftausend Meter unter Wasser in einem U-Boot, in dem eine fünfköpfige Besatzung in völliger Dunkelheit gefangen ist. Nachdem es zu einem Kurzschluss gekommen ist, funktioniert die Innenbeleuchtung des U-Boots nicht mehr. Die fünfköpfige Besatzung und der Kapitän erkennen ihre eigene Hand vor Augen nicht mehr. Als Leser leidet man mit den verzweifelten Insassen mit und verliert ähnlich wie diese, langsam den Verstand.
Von dem Bösewicht Gluten
Man merkt, dass Keegan sich nicht davor scheut, vieles auszuprobieren. Auch in ihren Essays ist sie offen und direkt. In einem schildert sie sehr ausführlich ihre Glutenunverträglichkeit. Wie sie bereits als Kind fast alles wieder erbrochen hat, bis Ärzte nach zahllosen Untersuchungen schließlich dahinterkamen, dass sie an Zöliakie leidet. Es ist spannend diesen Essay in einer Zeit zu lesen, in der es inzwischen als supertrendy gilt, glutenfrei zu leben, während die Autorin selbst noch als Außenseiterin an ihrer Schule galt.
„Warum wir uns um Wale kümmern“ lautet der Titel eines weiteren Essays. Dabei spricht sie ein kritisches Thema an, das wohl die Tierschützer, Vegetarier und Veganer unter uns aufschreien lassen würde. Sie wiegt Tier- und Menschenleben gegeneinander auf. Mutig stellt sie die Frage, warum für die Rettung von gestrandeten Walen ein riesiger Aufwand veranstaltet wird, bei dem hunderte Rettungshelfer im Einsatz sind. Oder warum zehntausende Dollar gespendet werden, damit die Wale in ein Aquarium transportiert werden. Wäre das Geld nicht besser für krebskranke Kinder investiert? Oder für Hungernde?
Spätestens nachdem ihr Buch gelesen habt, stellt sich die Traurigkeit darüber ein, dass jemand wie sie nicht mehr die Gelegenheit hat, zu schreiben – und wir nicht mehr die Chance, an ihren Gedanken und Fantasien teilzuhaben.