Wo bleibt die Zeit?

Ein Kommentar zu David Lohmuellers Fotovortrag “Idomeni – Zwischen Not und Hoffnung” vom 9.12.17 an der Universität Augsburg.

 

Foto: David Lohmueller

Das Mädchen mit den großen braunen Augen lacht. Um sie herum stehen ihre Freundinnen, die aufgeregt in die Hände klatschen. Sie singen, denn es ist Shirin’s Geburtstag. Als das Lied zu Ende ist, pustet sie mit ganzer Kraft alle Kerzen aus, stolze zwölf Stück. Doch anstatt zu Jubeln und sich zu freuen, steigen Shirin Tränen in die Augen. Sie versucht sie nicht zu verstecken. Erst jetzt zoomt die Kamera raus und lässt den Hintergrund erkennen. Das Mädchen in dem „I love Berlin“ -T-Shirt mit dem Kastenkuchen in der Hand und ihre kleine Gruppe von Freunden sind umzingelt von Zelten und einem Meer von Plastikflaschen. Darin liegen dreckige Decken, streunende Hunde suchen nach Obdach, Menschen in zerrissenen Klamotten sitzen vor einer Tonne, die Feuer spendet und wärmen ihre kalten Gliedmaßen. Shirin hat heute Geburtstag und seit einem halben Jahr ist Idomeni ihr zu Hause.

Was Anfangs wie ein normaler Kindergeburtstag scheint, stellt sich als kleiner Lichtblick in einem der katastrophalsten Flüchtlingslager innerhalb Europas heraus. David Lohmueller war dort und dokumentierte mit einer Kamera seine Eindrücke. Mit seinem Fotovortrag „Idomeni – Zwischen Not und Hoffnung“  teilt er seine Erfahrungen und berührt an diesem Abend ein paar Studentenherzen der Universität Augsburg. Zum 15. Mal hält er schon diese Präsentation und trotzdem schafft er es, so authentisch und lebendig zu berichten, als wäre man selbst stundenlang frierend bei der Essensvergabe im Regen in Griechenland gestanden. Nach dem Vortrag ist es still im Raum, der mit fruchtigem Glühwein- und Plätzchenduft gefüllt ist. Es geht uns sehr gut, vielleicht zu gut, geht durch die Köpfe vieler. Wenn wir doch nicht so viel mit der Uni zu tun hätten. Und mit dem Nebenjob. Und der nächste Urlaub ist auch schon gebucht. Wieder Stille. Ein paar Studenten knabbern an einem Keks und füllen die Amnesty International Leserbriefe aus. Und stets schwebt die Frage durch die Luft: Wo bleibt die Zeit?

Zeit ist kostbar. Zeit ist Geld. Zeit ist eine Illusion. Es gibt viele Sprichworte, die zu fassen versuchen, was Zeit eigentlich bedeutet. Dabei ist Zeit ein flexibler Begriff. Als Student wird einem von Anfang an eingetrichtert, wie wichtig ein gutes Zeitmanagement ist. Der Bachelor soll in höchstens drei Jahren fertig sein, darin enthalten am Besten noch ein Auslandsaufenthalt und nicht zu vergessen auch zwei oder mehrere Praktika. Wer Glück hat, schafft es noch, sich auf seine Hobbys zu konzentrieren und vielleicht bei der einen oder anderen außer-universitären Aktion mitzumachen. Schließlich schaut der Arbeitgeber einen schräg an, wenn ein Urlaubssemester oder eine Semesteranzahl im höheren Zahlenbereich im Abschlusszeugnis steht. Die Uhr tickt im Studentenleben ein wenig schneller als sonst. Tick Tack, schon die nächste Portfolio-Abgabe. Tick Tack, die Klausurenphase klopft leise an die Tür. Und dann immer diese Nachrichten von Flüchtlingen und Hungersnöten, von Naturkatastrophen und politischen Tragödien mit denen man täglich konfrontiert wird. Vor der Cafeteria veranstaltet ab und zu die ein oder andere händeringend nach Mitgliedern suchende Hochschulgruppe einen Kuchenverkauf, um auf Notsituationen aufmerksam zu machen. Doch die meisten schmeißen lediglich ihren Euro in die Spendenkasse und verschwinden dann rasch in Richtung Hörsaal, weil die Uhr schon fünf nach anzeigt. Fakt ist, man wird nie wirklich Zeit haben, um sich um die Menschen zu kümmern, die es am notwendigsten haben. Man muss sich die Zeit nehmen. Sicherlich hat nicht jeder die finanziellen Mittel, seelische Verfassung oder Selbstsicherheit in ein Krisengebiet zu reisen und dort mit beiden Händen anzupacken. Allerdings ist Zeit, wie gesagt, eine dehnbare Definition. Es gibt nicht nur Stunden, sondern auch Minuten und Sekunden. Und jede Einheit zählt. Wenn sich also die Möglichkeit ergibt, auch nur im Kleinen auszuhelfen, wie beispielsweise eine Informationsveranstaltung zu besuchen, sollten wir uns alle kurz die Zeit nehmen und die Stoppuhr drücken. Das Schneegewitter am Samstag Abend hatte mir beinahe die Lust und Laune genommen, einen spannenden Vortrag an der Universität zu besuchen. Dabei sind es für uns doch nur ein paar Schritte aus der Haustüre raus, während viele Menschen noch nicht einmal ein zu Hause haben, geschweige denn ihr neues Lebensjahr in Sicherheit feiern können.

 

Mehr Bilder und Informationen unter:

http://davidlohmueller.com/tag/idomeni/

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