Hang Loose

Unsere Redakteurin Michaela nahm mit dieser Kurzgeschichte an einem Schreibwettbewerb von PULS zum Thema "Lust " teil. Mit zwei weiteren Jungautor:innen las sie ihre Geschichte im Juli im Provino Club in Augsburg vor. BR/ Kilian Seiler für PULS Storytime 2021

Ein schneeweißer nackter Arsch. Er leuchtete so hell wie der Vollmond, der von einsamen Wölfen auf Klippenvorsprüngen angeheult wird. Nun war es aber nicht dunkel, sondern helllichter Tag und die Sonne schien durch das offene Fenster auf den Arsch. Er reflektierte das Licht, als wolle er sagen: „Pfff, was du kannst, das kann ich schon lange!“ Vielleicht könnte man sich sogar bräunen lassen, wenn man sich nur dicht genug vor diesen Arsch stellte, so hell war er. Schneewittchen wäre grün vor Neid geworden, hätte sie ihn gesehen. Der einzige Grund, warum man diesen Anblick überhaupt ohne Sonnenbrille ertrug, waren die dunklen Haare, die ihn gleichmäßig bedeckten. Auf einer Skala von 1 bis 10 für die Haarigkeit von Männerärschen, würde ich diesem Exemplar eine solide 6,5 geben. Wobei eins einem Baby-Po und 10 einem Gorilla-Hinterteil entsprach. Der Arsch, der auf der anderen Straßenseite ein Stockwerk tiefer durch das geöffnete Fenster leuchtete, siedelte ich in etwa bei „Wikinger in der Pubertät“ an.

Das Gesicht des Arschbesitzers lag 60 Zentimeter weiter vorn zerknautscht auf der Matratze. Der Mund war halb geöffnet und die Nasenspitze umgeknickt. Die unvorteilhafte Position des Schlafenden und das lädierte Antlitz ließen auf eine durchzechte Nacht schließen. Ich nahm die Sonnenmilch vom Fensterbrett und begann mich damit einzucremen. Unterhaltung dieser Art bekam man selten, wenn man sich für einen entspannten Nachmittag am Pool fertig machte. Sämtliche Bewohner des Appartement-Komplexes mit Fenster zur Straße kamen heute in diesen Genuss. Es war nicht so, dass das Zimmer des Arschbesitzers keine Jalousien besaß, er hatte es nur nicht für nötig gehalten sie herunterzulassen. Jalousien oder Vorhänge gehörten zur Standardausrüstung von Ferienwohnungen. Die wenigsten Menschen hatten das Bedürfnis beim Nacktschlafen auf einem Serviertablett zu liegen.

Der Arschbesitzer drehte sich umständlich auf den Rücken. Die komatöse Phase des Alkoholschlafs schien damit beendet zu sein. Das Bettlaken hing irgendwo zwischen Hüfte und Knien und bedeckte sein Gehänge zur Hälfte. Der rechte Hoden schaute darunter hervor und ich sah, dass der junge Mann auch vorneherum eine „Let the hair grow“-Politik verfocht. Ich schätzte ihn auf Mitte Zwanzig. Er war weder muskulös noch schlank noch dick. Sein Oberkörper war in eine dünne Schicht Wohlfühlspeck gehüllt. Das verwischte die harten Konturen der Muskeln. Sein Bauch wirkte, als könne man darauf ein gemütliches Nickerchen abhalten. Schultern, Brust und Bauch waren leicht gebräunt. Auf Höhe der Hüftknochen begann der weiße Streifen, der kurz vor den Knien endete. In diesem Bereich fiel auch der strahlende Arsch, der nun in die Matratze gedrückt wurde. Komplett nackt, gaukelte der junge Mann seinen Zuschauern vor, er trüge eine weiße Badehose, auf die ein haariges Gemächt aufgedruckt war. So unwahrscheinlich war die Vorstellung gar nicht. Gestern hatte ich eben dieses geschmackvolle Modell auf einem italienischen Markt gesehen: drei patriotische Längsstreifen in Grün, Weiß und Rot und auf Höhe des primären männlichen Geschlechtsmerkmals die Abbildung eines stylischen Mikropenis’ einer antiken Statue. Mit zwölf und als fleißige Schülerin im Lateinunterricht hatte ich gedacht, dass dies die Standardgröße für Penisse sei. Tatsächlich aber war es in der Antike lange Zeit der letzte Schrei gewesen, einen kleinen Schwanz zu haben. Big-Dick-Shaming bei den alten Römern. Wie Statussymbole sich ändern können… tja, andere Zeiten, andere Sitten. Die hatten damals halt noch keine Pornos, die unrealistische Standards vormachten. Heutzutage fragte sich jeder Pubertierende, ob sein Glied den Geodreieck-Test bestand. Insgesamt könnte sich die ganze Menschheit mal entspannen, was Sex anging. Aber das war nur meine ungebildete Meinung.

Marang66 für pixabay

Der Mann auf der anderen Seite der Straße regte sich. Er schien zögerlich aus dem Schlaf zu erwachen. Fest kniff er die Augen zusammen und rieb sich mit den Knöcheln der Zeigefinger die Lider. Sein Gehirn war noch damit beschäftigt, den derzeitigen Zustand zu evaluieren und ob es sich rentierte, die Schlafstätte zu verlassen. Es kam wohl zu dem Schluss, dass der Nutzen in diesem Fall nicht die Kosten rechtfertigte, denn der Arschbesitzer drehte sich wieder herum und bot unserer Appartementzeile auf der gegenüberliegenden Straßenseite erneut den Blick auf sein leuchtend weißes Hinterteil. Ich hörte nervöses Tuscheln in nicht allzu weiter Entfernung. Auf der Suche nach dessen Ursprung öffnete ich das Fenster und lehnte mich über die Brüstung. Auf dem Balkon der Wohnung nebenan stand ein Pärchen, ungefähr Anfang dreißig, und echauffierte sich über derartiges Betragen – Selbstverständlich nur im Flüsterton, man wollte schließlich keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Der Mann bemerkte mich und wies mit tadelndem Finger auf den schambefreiten Jüngling. Ich ahmte seinen Gesichtsausdruck und seine Geste nach, was ihn sichtlich zufrieden stellte. Plötzlich ertönte eine piepsige Kinderstimme und ein blonder Lockenkopf erschien am Geländer; gerade groß genug, um über den Rand gucken zu können. Ich konnte gar nicht so schnell schauen, wie die Frau das kleine Mädchen gepackt und zurück in die Wohnung getragen hatte. Der Mann eilte hinterher. Ich lehnte mich noch ein Stück weiter vor und sah, dass die Eltern eilig die Jalousien herunterließen. Also dafür waren die eigentlich gedacht! Das Mädchen quiekte aufgeregt. Anscheinend hatte sie bereits mehr gesehen, als ihre Eltern für angebracht hielten. Ich freute mich für sie. Das war allemal besserer Sexualkundeunterricht als die Playboy-Heftchen ihres Vaters, die sie früher oder später finden und verinnerlichen würde. Der schlafende nackte Mann auf der anderen Straßenseite hatte etwas frivol Friedvolles. Unschuldig und gleichzeitig verwegen. Ich schaute ihn gerne an.

Er warf sich noch einmal halb herum und blieb liegen, bis sein Hirn sich endlich dazu aufraffte, Nervensignale an die Muskeln zu schicken. Vielleicht war es aber auch nicht das Gehirn, sondern der sehr körperliche Drang zu Strullern. Dagegen kam selbst der schlaueste Denkapparat nicht an. Was auch immer den Arschbesitzer dazu bewog, nun setzte er sich im Bett auf, streckte sich ausgiebig und lehnte dann die Ellenbogen auf das Fensterbrett, um auf die Straße hinunterzuschauen. Verschlafen aber mit zufriedenem Gesichtsausdruck betrachtete er das eher mäßige Treiben. Das war nun endgültig der Zeitpunkt, an dem all seine Zuschauer schnell vom Fenster zurücktraten. Ich konnte sie nicht sehen, aber ich spürte förmlich, wie sie den Blick abwanden. Spannern war die eine Sache – dabei erwischt zu werden, eine nie wiedergutzumachende Schande. Der junge Mann ließ den Blick über unsere Häuserreihe schweifen und ein Grinsen schlich sich auf seine Lippen. Als er an meinem Fenster hängen blieb und mich dahinter stehen sah, zog er überrascht die Augenbrauen hoch. Dann lächelte er breit und winkte mir zu. Ich winkte zurück. Er deutete mit dem Finger Richtung Sonne und streckte beide Daumen in die Luft. Dann wandte er sich ab, stieg, nackt wie er noch immer war, aus dem Bett und verschwand aus meinem Blickfeld. Meine Vermutung mit dem Strullern schien sich zu bewahrheiten. Ich trat vom Fenster weg und stellte die Sonnenmilch zurück in den Badezimmerschrank. Es war früher Nachmittag und somit die perfekte Zeit für ein ausgiebiges Sonnenbad.

Deankez für pixabay

Zehn Minuten später lag ich auf einer Poolliege. Viele waren nicht mehr frei gewesen. Die Ferienwohnungsanlage beherbergte vor allem Deutsche, die mit ihren seltsamen Handtuch-Reservierungsregeln allen anderen Nationalitäten auf die Nerven gingen. So befand ich mich jetzt relativ nahe am Eingang des Poolbereichs, der einen regen Austausch von beflipflopten Füßen aufwies. Ich betrachtete die Touristen, die sich, mit dicken Badetaschen bepackt, aneinander vorbeischlängelten. Der ewige Trott hatte etwas beruhigendes und ich begann langsam wegzudösen. Der Müdigkeitsschleier lichtete sich schnell, als ich am Drehkreuz das Gesicht des Arschbesitzers erkannte. Seinen Arsch besaß er zwar immer noch, doch der war nun züchtig in eine Badehose gehüllt: patriotische Längsstreifen und darauf der Stolz der Antike. Ich musste grinsen. Um die Schultern trug er ein blau-weiß kariertes Handtuch, dessen Herkunft nicht schwer zu erraten war. Es machte den Kontrast perfekt. Er kam auf mich zu, hatte mich aber noch nicht gesehen. Ich bezweifelte, dass er mich wiedererkennen würde, denn ich trug eine Sonnenbrille und mein Gesicht lag im Schatten. Als er auf meiner Höhe war, sprach ich ihn an.

„Schönes Wetter heute, oder?“

Er blieb abrupt stehen und als er mich nach einigen Sekunden erkannt hatte, schmunzelte er.

„Perfektes Wetter heute.“

Ich schob mir die Sonnenbrille in die Haare und setzte mich auf.

„Hast du Lust, mit mir später etwas trinken zu gehen?“

„Klar, gern. Passt 19 Uhr für dich? Ich hol dich ab. Weiß ja jetzt, wo du wohnst.“

Mit einem Grinsen setzte er seinen Weg fort und ich lehnte mich wieder zurück, um das perfekte Wetter zu genießen.

Dieser Text entstand im Rahmen von PULS Storytime 2021 zum Thema „Lust”. Seit 2006 geht PULS, das junge Content-Netzwerk des Bayerischen Rundfunks, mit jungen Storyteller:innen und Literaturtalenten auf Tour quer durch Bayern. Infos zu PULS Storytime gibt es auf deinpuls.de/storytime

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