Die 1988 in Russland gegründete NGO Memorial soll von Behörden aufgelöst werden. Die internationale Menschenrechtsorganisation, die aus einer Bürgerrechtsbewegung heraus in Russland entstanden ist, gilt seit 2016 als “ausländischer Agent”. Nun droht ihr die vollständige Auflösung.
Die Organisation, die auch in Deutschland einen Ableger besitzt, wird international für ihre Arbeit geschätzt. Große Beachtung findet die historische Aufarbeitung der zu Zeiten der Sowjetunion, im Besonderen der Gewaltherrschaft des Stalinismus begangenen Verbrechen. So errichtete sie Denkmäler für die Opfer des Regimes, baute eigene Archive und Wissenschaftszentren auf und organisiert regelmäßig Erinnerungs- und Bildungsveranstaltungen. Neben der akribischen historischen Arbeit und der sozialen Hilfe für die überlebenden Opfer des Regimes liegt ein weiterer Fokus auf der aktuellen Menschenrechtssituation in Russland. Die Mitglieder setzen sich gegen Diskriminierung und Rechtsextremismus ein, dokumentieren staatliche Repressionen und unterstützen Opfer dieser. Ihre Arbeit ist keineswegs ungefährlich, 2009 wurde die Memorial-Aktivistin und Journalistin Natalya Estemirova ermordet. Memorial sieht den tschetschenischen Machthaber Ramsan Kadyrov und dessen Staatsmacht in der Verantwortung. Abschließend aufgeklärt wurde ihr Mord jedoch nie. Estemirova half in ihrer Tätigkeit, Familien in der russischen autonomen Republik Tschetschenien ihre verschollenen Angehörigen zu finden und berichtete über Entführungen und Folter im Land. Auch von staatlicher Repression ist Memorial selbst nicht zum ersten Mal betroffen. Neben den vielen Auflagen als „ausländische Agenten“ wurden bereits einzelne Mitglieder unter fadenscheinigen Vorwürfen verhaftet. Wie Oyub Titiev, in dessen Auto 2018 angeblich Drogen gefunden worden waren. Nach Bekanntwerden der zwielichtigen Verfahrensweise der Behörden folgte eine große Welle der Solidarität aus der Öffentlichkeit; Titiev wurde auf Bewährung freigelassen.
Seit 2012 existiert das Gesetz, das den Behörden ermöglicht, gesellschaftliche Organisationen als ausländische Agenten einzustufen. Seither wurde es mehrmals ausgeweitet: auf Medien und sogar Privatpersonen. Wer sich politisch betätigt und finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhält, muss sich auf die vom Justizministerium geführte Liste setzen lassen und sich als „ausländischer Agent” öffentlich kennzeichnen. Das geht mit einer großen Stigmatisierung in der Gesellschaft einher, Medien verlieren Werbeeinnahmen, Organisationen Spendengelder und Unterstützer:innen.
Heute tagt das Oberste Gericht, das über eine mögliche Auflösung der Organisation verhandelt. Ein Ausgang im Sinne Memorials ist jedoch nicht zu erwarten, trotz großer internationaler Solidarität. Memorial selbst schreibt auf ihrer Website dazu: „Wie auch immer das Gericht entscheidet, ‚Memorial‘ – das ist mehr als eine juristische Person. Das sind alle, die sich an den sowjetischen staatlichen Terror erinnern, die gegen die heutigen Repressalien protestieren und bereit sind, gemeinsam für das Leben und die Freiheit eines jeden Menschen zu kämpfen. Was auch immer passiert, wir werden unsere Arbeit fortführen.“