Der bucklige Balduin – Eine Weihnachtsgeschichte

Hütte in den verschneiten Bergen
@Neil Bates

Es war wohl keiner Menschenseele zu verübeln, den buckligen Balduin als ein wenig sonderbar zu bezeichnen. Wie sein reizender Name schon verrät, war Balduin alt. Wie alt genau wusste niemand. Schon immer hatte er graue Haare und seinen ganz eigenen, gebeugten Gang. Es war aber ein Akt der Unfreundlichkeit, ihn als verrückt zu bezeichnen. So pflogen es allerdings die Erwachsenen des kleinen Dorfes in den Bergen zu tun. Sie erzählten sich gegenseitig die gemeinsten Geschichten und warnten ihre Kinder vor dem gruseligen Alten. Dabei war nichts davon wahr. Der bucklige Balduin sprach mit sich selbst, er beobachtete auch gerne Kinder beim Spielen, aber niemals würde er jemandem etwas zuleide tun, erst recht keinem Kinde! Die Menschen im Dorf hatten dennoch Angst vor ihm. Niemand wusste woher er kam und doch schien er schon immer da gewesen zu sein. Selbst die Ältesten im Dorfrat erinnerten sich nicht an eine Zeit ohne den buckligen Balduin. Aber der wahre Grund, weshalb sie Angst vor ihm hatten, war wohl kaum die Tatsache, dass er aus unerklärlichen Gründen schon immer da war. Es war die Tatsache, dass er anders war, irgendwie in der Zeit stecken geblieben und immerzu übermäßig freundlich. Die Leute suchten nach Fehlern bei ihm und weil er nun mal keine großen Fehler machte, war diese Tatsache eben der Fehler.

Balduin wohnte in einer kleinen Hütte auf einem Berg, der fast das ganze Dorf überblickte. Im Winter musste er sich Schneeschuhe an die Füße schnallen, um seine Einkäufe zu erledigen. Während jeder im Dorf schon längst eine Heizung und fließend Wasser hatte, heizte Balduin noch immer mit selbst gehacktem Holz und schmolz im Winter den reichlichen Schnee für einen guten Tee ein. Dort oben fühlte sich Balduin am wohlsten. Selten bemühte sich jemand den steilen Weg hinauf und wenn doch waren es Kinder, die ihm am liebsten waren. Die Kinder beobachteten ihn auch, aber nicht um einen Fehler zu finden, den sie nächste Woche am Stammtisch verbreiten konnten. Sie beobachteten ihn aus reiner Neugierde. Balduin war so anders als all die Erwachsenen, als all die Eltern und Verwandten der Kinder. Die Kleinsten im Dorf kamen häufig zu Balduin. Er erzählte die besten Geschichten weit und breit. Im Sommer wartete der alte Mann bereits mit selbstgemachter Limonade auf die Kinder und im Winter saßen sie in der kleinen Hütte um den Ofen herum, dem Knistern des Feuers und Balduins sonderbaren Geschichten lauschend.

An diesem Morgen machten sich alle Kinder des Dorfes auf den Weg, den alten Mann zu besuchen. Sie waren ganz aufgeregt. Zum einen hatten die Eltern doch verboten zu Balduin zu gehen. „Der ist gefährlich, der ist mir nicht geheuer“, hatten sie ihre Kleinen gewarnt. Die Kinder gingen trotzdem. Wie von einer unsichtbaren Macht angezogen spürten sie, dass sie fortmussten. Sie versteckten sich, schlichen davon oder formten ein großes Lügengerüst, indem das eine Kind das andere besuchte. Zum anderen waren die Kinder ganz kribbelig vor Erwartung: Es war der Nachmittag des vierundzwanzigsten Dezembers, Heilig Abend. Schon bald lägen reichlich Geschenke unter dem Christbaum, es würde das beste Essen im ganzen Jahr geben und endlich auch die Plätzchen, von denen sie schon zuvor heimlich genascht hatten.

Balduin wartete bereits auf die Kinder. Er sah aus dem kleinen Fenster seiner Hütte und musste lächeln, als er dem Treiben zusah. Die Kinder konnten selbst beim Laufen ihre Aufregung nicht verbergen. Die Kleinsten rannten um die Älteren herum, tobten im Schnee und jauchzten fröhlich in die eisig kalte Winterluft. Der bucklige Balduin dachte nach. Wie viele Kinder kamen in all den Jahren schon zu ihm, um seinen Kakao zu schlürfen und den vielen Geschichten zu horchen? Fast alle, die jetzt das kleine Dorf bewohnten, waren selbst hier gewesen, als sie noch Kinder waren. Aber es gab immer einen Punkt, an dem die Menschen aufhörten ihn zu besuchen. Es fing damit an, dass sie urplötzlich am Nachmittag des Heiligen Abends nicht mehr in der alten Hütte auftauchten. Danach folgte, dass sie nicht mehr mit Balduin sprachen, wenn er den Wochenmarkt besuchte. Und zuletzt, und dies schmerzte Balduin am allermeisten, passierte, dass sie sich vor ihm fürchteten und aus jedem Wort, welches er aussprach, eine Lüge formten, die wie eine Flutwelle durch das ganze Dorf rollte.

Balduin wurde ganz traurig, als er den Kindern länger beim Toben zusah. Nicht, weil er selbst gerne dort unten herumtoben würde. Das hatte er lange genug. Aber er spürte, dass er alt war. Die grauen Haare standen ihm schon ewig auf dem Kopfe und auch der bucklige Gang war für ihn kein Zeichen des Alters. Er spürte, dass es dem Ende zuging. Es fiel ihm von Tag zu Tag schwerer aufzustehen und er hatte immer weniger Freude an seinem Leben. Aber er konnte noch nicht sterben. Was würde mit den Kindern passieren? Dann ist niemand mehr da, der ihnen den wahren Zauber von Weihnachten zeigt. Sie werden nur noch auf die teuren Geschenke achten und dabei ganz geizig werden. Solange er hier noch eine Aufgabe hatte, konnte er nicht sterben, auch wenn er es zurzeit doch so gerne tun würde. Balduin verdrängte den unangenehmen Gedanken an den Tod und legte noch einmal Holz in den Kachelofen nach, bevor die Kinder in die Hütte stürmten und die Ruhe mit ihrem Gelächter vertrieben. Eines nach dem anderen setzte sich auf der Eckbank nieder und sie warteten geduldig bis auch der bucklige Balduin sich in seinem Schaukelstuhl niederlassen würde. Nachdem er jedem eine dampfende Tasse heiße Schokolade hingestellt hatte, war es soweit. Er setzte sich in den knarrenden Stuhl, die schrumpeligen Hände gefaltet und für einen Moment nur die freudigen Kinder betrachtend. „Es war einmal vor langer langer Zeit…“, begann er zu sprechen und auch die letzten Kinder verstummten, um seinen wunderbaren Geschichten zu lauschen.

Unten im Dorf sah es ganz anders aus. Den Stress konnte jeder deutlich spüren, der sich durch das kleine Dorf bewegen würde, auch wenn er versteckt in den kleinen Häusern lag. Der Schnee fiel sanft in tanzenden Flocken auf die Erde hinab. In den Häusern wurden Christbäume aufgestellt und üppig geschmückt. Niemand der Erwachsenen freute sich auf das bevorstehende Fest, vor lauter Stress spürten sie gar nichts anderes mehr. Dies hatten sie noch zu erledigen und bloß jenes nicht vergessen! Die lange Aufgabenliste schwirrte vor ihrem inneren Auge herum, so bemerkten sie auch gar nicht, wo eigentlich ihre Kinder abgeblieben waren. Ein Haus nach dem anderen erstrahlte hell die dunkle Nacht, die Lichter der flackernden Kerzen spiegelten sich in den Schatten wieder und vertrieben einen Teil der Dunkelheit. Nur in einem Haus war es dunkel. Es war keinerlei weihnachtliche Dekoration zu sehen, weder innen noch außen. Jeder der durch das Dorf laufen würde, müsste sich wundern. Diese Dunkelheit stach so hervor, dass man automatisch stehen blieb, um nachzudenken. Stand das Haus etwa leer? Ist der Bewohner verreist? Mochte er am Ende gar kein Weihnachten? Das Haus stand nicht leer, der Bewohner war auch nicht verreist und er liebte Weihnachten, eigentlich. Zumindest tat er das früher. Das dunkle Haus bewohnte der traurige Tom. Und so saß er dort im Dunkeln an seinem Küchentisch und starrte gegen die kahle Wand. Er hatte keinen Christbaum. Keine Kerzen erhellten das Licht und auch sonst war da nichts, das auf den Heiligen Abend hindeuten konnte. Der traurige Tom mochte Weihnachten sehr gerne, es war genau seine Zeit. Er schlug immer den schönsten Christbaum aus dem Wald, schmückte nicht nur innen, sondern auch das ganze Dorf und sang den ganzen Tag die schönsten Weihnachtslieder. Aber jetzt gab es niemandem mehr, mit dem er Weihnachten feiern konnte. Seine Eltern waren tragisch verunglückt, und seine geliebte Ellie starb, zusammen mit dem Kind, dass sie bald bekommen sollte. Und was bringen einem der schönste Christbaum, die besten Plätzchen und die schönste Stimme, wenn es niemanden gibt, mit dem man es teilen kann? Für Tom gab es nichts mehr in diesem Leben, er war einsam und immerzu traurig, was ihm im Dorf den Namen des traurigen Tom einbrachte. Die Menschen mieden auch ihn, aus Angst sie könnten von seiner Traurigkeit angesteckt werden. Dabei wollte er doch nur jemandem haben mit dem er zumindest an diesem Abend die schönsten Weihnachtslieder singen und die besten Plätzchen vernaschen konnte! Als er dort so saß wurde diese Sehnsucht immer größer. Und dann fiel ihm ein, was er stets als Kind getan hatte. Er sprang auf und rannte aus dem Haus ohne abzuschließen. ‚Was mögen die Nachbarn nur denken?‘, fragte er sich, während er wie von etwas verfolgt mitten durch das Dorf rannte. Sie würden ihn fortan nicht nur als traurig, sondern auch als grundlegend verrückt erklären. Aber Tom rannte weiter, es war ihm egal. As Kind hatte er sich doch auch nie um die Gedanken der anderen gekümmert, warum sollte er es jetzt tun? Tom sprintete durch den hohen Schnee, sprang über Wurzeln und schlitterte über die glatte Straße. Er hatte das Gefühl, das erste Mal seit Ellies tragischem Tod wieder richtig atmen zu können. Nach einigen Metern stach ihm bereits die kalte Luft in den Lungen und er war ganz außer Atem, aber er rannte andauernd fort. Mit jedem Schritt, den er sich von seinem dunklen Haus entfernte, fühlte er sich besser. Vor lauter Freude fing er an zu summen. Ein Lied nach dem anderen, immer noch rennend. Es würde ihn wirklich nicht wundern, wenn die Leute ihn für verrückt erklären würden, genauso wie den alten Balduin. Aber das taten sie ja sowieso schon.

Balduin erzählte nun schon eine ganze Weile. Er liebte es, Geschichten zu erzählen. An Weihnachten tat er es am liebsten. Das Feuer knisterte und die Kinder waren ganz unruhig geworden, als Balduin so intensiv erzählte, dass sie die Spannung fast greifen konnten. Kurz bevor die Geschichte ihren Höhepunkt erreichte, stoppte Balduin zu erzählen. Es hatte an der schweren Holztüre geklopft. Die Kinder erschraken, so sehr hatten sie sich auf die Worte Balduins konzentriert. Dieser erhob sich schwerfällig aus seinem alten Schaukelstuhl, um die Türe zu öffnen. Was möge ihn wohl dahinter erwarten? Vermutlich Eltern der Kinder, die wutbrausend den ganzen Weg hierhergelaufen waren, um sie vor ihm zu beschützen. Dabei wollte er doch nur ein paar Geschichten erzählen! Langsam öffnete er die Türe. Erschrocken starrte er sein Gegenüber an. Dann wandelte sich die Erschrockenheit in Überraschung und schließlich in Freude. Er zog den Ankömmling in die gemütliche Stube. Es war der traurige Tom, der geklopft hatte und jetzt in den kleinen Raum trat. Auch den Kindern stand die Überraschung in das Gesicht geschrieben. Was wollte der denn hier? Für einen kurzen Augenblick stand Tom einfach nur im Raum und sah den Kindern in die Augen. Dann setzte auch er sich hin und der bucklige Balduin fuhr mit seiner Geschichte fort. Und als Balduin so erzählte, wurde Tom etwas bewusst: Er hatte in all der Eile des Erwachsenwerdens verlernt, was Weihnachten bedeutet. Er hatte vergessen, welche Freude man empfinden kann, wenn man nur willig ist, sie auch zu spüren. Er hatte sich von Stress überwältigen lassen, er ist in der Traurigkeit versunken. Aber es ist niemals zu spät, Freude zu empfinden. Es ist nie zu spät sich daran zu erinnern, welche Freude dieses Fest einem jedem bescheren kann. Es ist auch nie zu spät, sich aufzuraffen und seine Schatten zu überwinden. 

Der traurige Tom wurde nicht ganz glücklich. Noch immer fühlte er sich von Zeit zu Zeit einsam. Aber sobald die Kinder, und manchmal sogar die Erwachsenen, ihn besuchen kamen, ging es ihm gut. Aus dem traurigen Tom wurde der trällernde Tom und aus den gestressten Erwachsenen nach und nach wieder Menschen, mit einem Sinn für Freude. Von nun an wurden keine wunderbaren Geschichten erzählt, sondern Lieder und Balladen gesungen. Und auch wenn die Kinder Balduins Geschichten vermissten, die Lieder mit Tom zu singen war ein ehrwürdiger Ersatz.

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