Die Leiden des jungen Blobfischs

Sie erkannte an den fest zusammengepressten Lippen, dass Ärger im Anmarsch war. Ärger hatte zwei Sekunden zuvor die Tür ruckartig aufgestoßen. Sie stand nackt vor ihm und rubbelte sich mit einem Handtuch die Haare trocken. Das Überraschungsmoment war auf ihrer Seite. Er verharrte kurz, und für den Bruchteil einer Sekunde nahm sein Gesicht einen liebevollen und sehnsüchtigen Ausdruck an. Sie liebte es, wenn er sie so ansah. Dadurch fühlte sie sich jedes Mal wie Aphrodite persönlich. Die zusammengepressten Lippen kehrten schneller als ihr lieb war, zurück.

„Hast du die Balkontür aufgelassen?“

Eine eindeutige Drohung schwang in dieser lapidaren Frage mit.

„Kann schon sein, keine Ahnung.“ Sie zuckte die Schultern und schlüpfte in ihren Bademantel. Ein ungläubiges Schnauben entwich ihm und er starrte sie hasserfüllt an. Packte der‘s noch?

„Was ist bitte dein Problem? Du kommst hier rein und schnauzt mich grundlos an. Bis eben hatte ich gute Laune. Schönen Dank auch.“

Seine Augen formten sich zu Schlitzen. „Eine einfache Frage, Nathalie. Hast du die Balkontür offengelassen oder zugemacht, bevor du duschen gegangen bist?“

Sie sah es gar nicht ein, ins Kreuzverhör genommen zu werden. „Hallo? Es ist eine fucking Tür. Draußen hat es 40 Grad im Schatten und hier drinnen kochen die Zimmerpflanzen sich selbst ein. Es macht keinen Unterschied, ob die blöde Tür offen oder zu ist!“

„Dein verdammter Kater hat meinen Ferdinand ermordet!“ Er brüllte sie beinahe an. Für einen kurzen Augenblick war sie sprachlos. Emil stürmte ohne ein weiteres Wort aus dem Badezimmer. Sie rannte ihm hinterher. „Hey, jetzt warte mal. Das kann doch gar nicht sein.“

In einer dramatischen Bewegung wirbelte er herum. „Ach ja? Und was ist dann das da?“ Er zeigte auf ein Stück Küchenpapier auf dem Esstisch. Sie trat näher und inspizierte den bewegungslosen Fisch, der darauf lag. Der Bauch war aufgeschlitzt, das Ding regte sich nicht mehr. Die Beinchen standen reglos vom Körper weg. Obwohl sie diese glitschigen Viecher verabscheute, überrollte sie eine Welle aus Mitleid. Sie sah zu dem Aquarium an der Wand. Dort paddelten die anderen drei Haustiere ihres Freundes vor sich hin; ahnungslos, dass sie ihren Kumpanen nie wieder sehen würden.

Sie wollte Emil trösten, doch der durchbohrte sie mit eiskalten Blicken. „Du bist daran schuld. Du und dein vermaledeiter Flohzirkus.“

Seine haltlosen Anschuldigungen ließen Wut in ihr hochkochen.

„Er ist nicht mein Kater und das weißt du ganz genau. Außerdem ist hier noch gar nichts bewiesen. Und überhaupt hast du noch drei andere Blobfische, also warum regst du dich eigentlich so auf?“

„Das sind keine Blobfische! Das sind Axolotls!“

Der Axolotl (Ambystoma mexicanum) ist eine mexikanischer Schwanzlurch aus der Familie der Querzahnmolche. Im Gegensatz zu der bei Amphibien üblichen Metarmophose wird der Axolotl geschlechtsreif, ohne seine äußere Larvengestalt zu verändern. (LaDameBucolique via pixabay)

Nun schrien sie sich wirklich an. Die Nachbarn würden jedes Detail ihres Streits mitbekommen. Nicht, dass es die beiden gekümmert hätte.

„Meine Güte, es sind einfach nur Fische. Hör auf, sie wie Familienmitglieder zu behandeln.“

„Axolotls sind aquatil lebende Amphibien! Und das sagt gerade die Frau, die die Drecksviecher vom Nachbarn anfüttert, um mit ihnen Geisterbeschwörungen zu veranstalten.“

Nathalie stürmte wutentbrannt zur Balkontür und rüttelte wie eine Wahnsinnige an der Klinke. Sie war fest verschlossen, auch wenn das wahrscheinlich daran lag, dass Emil sie nach dem Vorfinden des Massakers geschlossen hatte.

„Guck. Ich hab die blöde Tür nicht aufgelassen, verdammt! Und Milo kommt um diese Uhrzeit gar nie auf unseren Balkon!“

„Die Tür war offen, als ich Ferdinand gefunden habe!“

„Das ist kein Beweis, dass Milo es getan hat!“

„Dieses Vieh hat meinen Axolotl auf dem Gewissen!“

Ohne ein weiteres Wort riss sie die Balkontür auf und schmiss sie hinter sich wieder ins Schloss. Das Glas trennte sie nun, doch die unausgesprochenen Vorwürfe und Wutschreie sickerten ungefiltert hindurch. Einen Augenblick lang starrten sie sich mit funkelnden Augen an. Sie konnte nicht fassen, wie kindisch er sich benahm. Er konnte nicht fassen, wie sie dreist jegliche Schuld abstritt. Nathalie drehte sich auf dem Absatz um und begann nach Milo zu rufen. Ein schmales Holzbrett führte vom Balkongeländer steil nach unten auf die Wiese. Sie hatte es dort befestigt, damit Milo zu ihnen hinaufgelangte. Ein kurzer Gewissensbiss packte sie. Nein. Sie würde jetzt nicht nachgeben und um Verzeihung heischend auf dem Boden herumkriechen. Diese Genugtuung würde sie ihm nicht geben. Es war bloß ein blöder Fisch. Bekam man für 5€ das Stück in der Tierhandlung. Emil hatte kein Recht, sie so anzufahren.

Milo erschien nicht. Dafür ein wutschnaubender Emil im Türrahmen.

„Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?“ Seine Stimme war kaum mehr ein Knurren. Wütend schoss sie zurück: „Du hast ihm bestimmt etwas angetan, gib’s zu! Du widerlicher Katzenhasser. Milo ist für dich immer an allem schuld.“

Sie steigerte sich so sehr hinein, dass sie eine riesige Emotionswelle überrollte. Eine irrationale Angst befiel sie und sie verspürte den Drang, irgendetwas nach Emil zu werfen. Irgendetwas schweres und kantiges.

In freier Wildbahn ernähren sich Axolotls von Krebstieren, Insektenlarven, kleinen Fischen und Laich. Frei lebende Axolotls weisen im Gegensatz zu Axolotls in Gefangenschaft eine dunkle Färbung auf. (KinEnriquez via pixabay)

„Willst du mich verarschen? Der hockt jetzt irgendwo im Schatten und leckt sich genüsslich die Pfoten. Aber klar, ich bin hier der Böse! Dir ist es doch scheißegal, dass ich das Vieh noch nie ausstehen konnte. Dir ist immer alles scheißegal, wenn es um mich geht. Wieso solltest du auch Kompromisse machen? Ich bin ja nur dein Freund.“

Er redete sich so in Rage, dass kleine Tröpfchen Spucke aus seinem Mund sprühten.

„Ah super, jetzt packen wir also die Strohmann-Argumente aus. Weißt du was? Du bist ein Riesen Arschloch. Ich wollte deine blöden Blobfische auch nicht in unserer gemeinsamen Wohnung haben. Aber wurde ich gefragt? Natürlich nicht. Sorry, dass ich mir mein eigenes Haustier gesucht habe!“

„Es ist nicht mal dein Haustier! Er gehört unseren Nachbarn und ist dort bestens versorgt. Kein Wunder, dass du das noch nicht mitgekriegt hast. Du lebst ja in deiner eigenen, egozentrierten Welt!“

Das war so unerhört, dass sie nur atemlos schnauben konnte. Doch gleich darauf fand sie ihre Stimme wieder: „Das sagt gerade Mr. ‘Meine-Persönlichkeit-besteht-aus-BWL-und-Axolotls’! Wie kann man nur so unfassbar langweilig sein?!“

Hätten seine Blicke töten können, läge sie jetzt neben dem aufgeschlitzten Axolotl auf dem Küchentisch. Wortlos drehte er sich um und verschwand im Schlafzimmer. Sollte der doch angepisst sein. Dämlicher Spießer. Fucking Langweiler! Sie trat heftig gegen den Holzstuhl. Er knarzte leidend. Super! Noch so ein Weichei.

Frustriert ließ sie sich darauf fallen. Stur wie ein Esel nur wegen eines blöden Fischs. Sie verschränkte die Arme und starrte bitterböse vor sich hin. Ganze zehn Minuten gelang ihr das prima. Sie musste sich lediglich Emils Anschuldigungen wieder und wieder ins Gedächtnis rufen. Das Ding mit der Wut war, dass sie wortwörtlich verrauchte, wenn man ihr ein Ventil gab. Und das hatte sie zur Genüge bekommen. Es passte Nathalie nicht in den Kram. Am liebsten hätte sie diesen hasserfüllten Zustand für immer aufrechterhalten. Was fiel diesem Vollidioten ein, sie so anzugehen? Dazu hatte er kein Recht. Egal, wie verletzt er eventuell, vielleicht, wahrscheinlich gewesen war.

Das kurzangebundene „Miau“ zu ihrer Linken holte sie aus ihrer Starre. Milo strich schnurrend um ihre Knöchel. Sie hob den Kater auf den Schoß und inspizierte ihn eingehend. Keine Blutspuren an den Tatzen. Auch das Maul sah sauber aus. Wenn sie hier den Täter vor sich hatte, so hatte dieser seine Spuren gut verwischt. Oder weggeschleckt, um genau zu sein. Der Täter. Milo sah nicht aus wie ein Täter. Er war kuschelig und weich und schnurrte wohlig. Die anderen drei Axolotls schwammen friedlich in ihrem Aquarium dahin. Ferdinand konnte sie von hier nicht sehen. Nur das weiße Küchenpapier lag dort wie ein Leichentuch.

Ausgewachsene Axolotls weisen eine Gesamtlänge von 23-28 cm auf. Unter guten Bedingungen haben sie eine Lebenserwartung bis zu 20 Jahre. Als Lebensraum bevorzugen sie kühles und sauerstoffreiches Süßwasser und halten sich zumeist in Bodennähe auf. (uthlas via pixabay)

Realistisch betrachtet hatte Milo Ferdinand wahrscheinlich getötet. Katzen und Aquarien – diese Leidensgeschichte würde nie enden. Sie setzte den Kater zu Boden und ging zu Ferdinand. Er lag dort in derselben Position wie vor zwanzig Minuten. Die viel geehrte Totenruhe hatten sie beide erfolgreich zerstört.

Nathalie legte Ferdinand, den Axolotl, mitsamt Küchenpapier in eine alte Zigarrenschachtel; ein Erbstück ihres Großvaters. Sie zog sich etwas über, suchte sich eine kleine Schaufel und ging hinunter in den Vorgarten. Neben einer hübschen blauen Blume grub sie ein Loch. Sie grub tief. Niemand sollte Ferdinands ewig Ruhe von nun an stören. Die Erde fiel scheppernd auf die kleine Holzkiste. Nathalie wischte sich salzige Tropfen aus der Stirn. Bei diesen Temperaturen sorgte selbst die kleinste Anstrengung für Schweißausbrüche.

Auf den angehäuften kleinen Erdhügel legte sie aus Steinen ein Kreuz. Dann richtete sie ein paar Worte an Gott. Sie redete nicht oft mit ihm und kam sich komisch dabei vor. Ein Paar Arme zog sie an einen warmen Oberkörper. Emil legte sein Kinn auf ihre Schulter. Schweigend betrachteten sie das Grab. Niemand sagte etwas, niemand entschuldigte sich. Sie waren schließlich auf der Beerdigung von Ferdinand, dem Axolotl, und deshalb ging es nur um ihn.

1 thought on “Die Leiden des jungen Blobfischs”

  1. Die Axolotl-Fakten fand ich zwar etwas verwirrend und den Lesefluss störend. Sonst hab ich die Geschichte aber von Anfang bis Ende genossen. Sehr schön!

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