Das Buch „Wilde Schwäne“ von Jung Chang erzählt die chinesische Geschichte besser als jedes Geschichtsbuch: Jeder, der China verstehen will, sollte dieses Buch lesen.
Das Buch „Wilde Schwäne“ nimmt die Leser*innen mit auf eine Zeitreise in die chinesische Geschichte von der Kaiserzeit bis zu den Protesten auf dem Tian‘anmen Platz. Dabei erzählt die Autorin Jung Chang ihre Familiengeschichte, die sie aus der Perspektive von drei Generationen von Frauen schildert: Sie beginnt mit ihrer Großmutter, geht über zu ihrer Mutter und schließt mit ihrer eigenen Biografie ab. Dabei vermittelt Chang dem/der Leser*in unglaublich viel über die chinesische Geschichte, die umso wirkungsvoller wird, da die historischen Ereignisse mit subjektiven Erlebnissen der Frauen eindrucksvoll aus einer weiblichen Perspektive beleuchtet werden.
Changs Großmutter wuchs noch im Kaiserreich auf, indem gebundene Füße ein Schönheitsideal darstellten. Ihr Vater verkaufte sie als Konkubine an einen General, um einen höheren gesellschaftlichen Status zu erlagen. Das Haus des Generals teilte sie sich mit anderen Konkubinen und seiner Ehefrau. Trotz des materiellen Zugewinns war sie im Haus des Generals einsam, denn der General kehrte erst nach sechs Jahren wieder zurück. Bei seinem kurzen Besuch wurde Changs Mutter gezeugt. Als der General in jungen Jahren verstarb floh die Grußmutter zu ihren Eltern und täuschte der Ehefrau vor, das Kind sei verstorben. Sie heiratet später den älteren Dr. Xia mit dem sie eine gleichberechtigte Ehe führte. In dieser Zeit erlebten sie jedoch auch schwierige Zeiten, während des japanisch-chinesischen Kriegs und der japanischen Besatzung. In dieser Zeit wurden die Chinesen als Bürger zweiter Klasse behandelt und litten unter Hungersnöten.
Changs Eltern waren Kommunisten der ersten Stunde
Changs Mutter wuchs in Zeiten des politischen Umbruchs auf, in denen sie sich bereits als Teenagerin der Kommunistischen Partei anschloss. Chang beschreibt das Leben ihrer Familie in einer Vielschichtigkeit, die einzigartig ist. Ihren eigenen Vater stellt sie als besonders facettenreichen Charakter dar: ein Kommunist der ersten Stunde und überzeugter Ideologe. Besonders ihre Mutter leidet darunter. So stirbt sie fast auf dem Marsch nach Yibin und erleidet eine Fehlgeburt, ihr Mann fuhr mit anderen hohen Parteimitgliedern in einem Auto, wollte sie aber nicht mitnehmen. Als hoher Parteifunktionär wollte er sich nicht dem Vorwurf der Vetterschaft – eine Verhaltensweise der Bourgeoisie – ausgesetzt sehen. Auch beruflich stellt er seine Ehefrau präventiv schlechter, um möglichen Vorwürfen zu entgehen. Ihre Mutter merkte schnell, dass es der Kommunistischen Partei nicht um bessere gesellschaftliche Verhältnisse ging, sondern vielmehr um Macht. In dieser Erkenntnis sah sie sich im Verlauf der Jahre immer wieder bestätigt. Ihr Vater merkte dies erst spät, als er die Parteiführung während der Kulturrevolution auf die Hungerkrise aufmerksam machte, was ihm seine Stellung kostete. Als die Partei ihm dann seine geliebten Bücher wegnahm wurde er noch wahnsinnig. Schließlich wurden Changs Eltern in Gefangenenlager gebracht. Dort reflektiert der Vater über sein Leben und entschuldigt sich bei seiner Familie für sein Verhalten.
Chang wuchs in während der Kulturrevolution auf. Der Mao-Kult wurde immer allgegenwärtiger und schloss sie selbst und ihre Generation völlig ein. Als sie auf einer Studienfahrt die Möglichkeit bekommt Mao zu sehen, ihn aber nur von hinten sieht, bricht eine Welt für sie zusammen und sie durchlebt danach eine depressive Phase. Im Buch wird deutlich, welch unendliches Leid Mao über das chinesische Volk brachte. An manchen Stellen wirkt das Buch gewollt brutal – bis einem einfällt, dass lediglich die Realität geschildert wird. Chang selbst erkannte durch den Umgang ihrer Eltern den schlimmen Charakter Maos. Sie selbst leidet auch unter der Partei: Anstatt Literatur studieren zu können, wurde sie aufs Land zu den Bauern geschickt, wo sie härteste Arbeit verrichten musste. Nach der Kulturrevolution gelang es ihr einen Studienplatz zu ergattern. Wenig später starb Mao. Chang schreibt, sie habe sich durch Maos Tod erheitert gefühlt.
Ein großes Problem bleibt: Das Buch ist in China verboten. Die Kommunistische Partei, die heute noch an der Macht ist, duldet keine Kritik und zieht ihre Legitimität weiterhin aus den historischen Ereignissen. Das Buch zeigt, wie utopische Ideale durch Machtbesessenheit konterkariert werden. Eindrucksvoll ist auch, wie Chang den perfiden Charakter der Kommunistischen Partei beschreibt. So fordert die Parteiführung ihre Mitglieder in einer scheinbaren Geste der Offenheit auf, Kritik zu äußern – nur um kurz darauf diejenigen, die Kritik geäußert haben, aus der Partei auszuschließen oder sie zu bestrafen.
Ein wirklich toller Artikel!
Liebe Frau Nouri,
da haben Sie eine sehr anschauliche und interessante Rezension geschrieben, die Lust macht das Buch zu lesen und sich zu dieser Zeit auch als Idee für den Gabentisch eignet.
Vielen Dank und herzliche Grüße
Marc Nelsen