Märchenhafte Zeiten

Augsburger Puppenkiste als Steigbügelhalter der Phantasie

Von Jennifer Stanzl

Augsburger Puppenkiste als Steigbügelhalter der Phantasie

Das kleine neun mal neun
Hinter neun mal neun Bergen, hinter neun mal neun Meeren liegt die bezaubernde Welt unserer Phantasie verborgen. Hier werden hässliche Frösche zu wunderschönen Prinzen, arme Mädchen zu reichen Bräuten, alle Tiere können sprechen und Menschen können immer noch leben, auch wenn sie schon einmal den Magen eines Wolfes von innen gesehen haben. Den Weg dorthin zu finden vermag ein Kind mit unschuldig-spielerischer Leichtigkeit. Tief versunken im märchenhaften Wald der Phantasie spielt es mit den leuchtenden Farben des Seins und kreiert einem Künstler gleich seine eigene Welt. „Erwachsene“ hingegen scheuen vor diesem Märchenwald zurück. Beschämt beschimpfen wir das Kind in uns und schließen die Tür zu unserer Vergangenheit: Unfug und Märchen gehören schließlich nicht in die Wirklichkeit des Alltags.

Erwachsene kommen auch alleine
„In den achtziger Jahren brauchten die Erwachsenen noch ein Alibi um in die Puppenkiste zu kommen“, berichtet Klaus Marschall, der Leiter der Augsburger Puppenkiste. „Doch jetzt scheinen die Erwachsenen in diesem Sinne emanzipiert zu sein. Nun kommen sie auch alleine.“ Allein in diesem Jahr bestand das Publikum der „Kiste“ zu 30-50% aus Erwachsenen. Die Zeiten ändern sich und das Märchen scheint eine Wiederbelebung zu erfahren. „Es gibt an die 500 hauptberufliche Märchenerzähler“, berichtet Sabine Wienker-Piepho, Leiterin des Instituts für Volkskunde und Ethnologie an der Münchner LMU. Nicht Kinder umringen die Märchenerzähler bei ihren Lesungen, sondern ein erwachsenes Publikum lauscht gespannt den Worten. Denn wer denkt, Märchen wären nur etwas für Kinder, würde bei jedem Märchenforscher ein empörtes Kopfschütteln ernten.

Die alte Leier: Hass und Liebe
Historisch gesehen brachten erst die Gebrüder Grimm mit ihrer Haus- und Kindermärchensammlung aus dem 19. Jahrhundert das Märchen als literarische Gattung für Kinder hervor. Seit jeher waren Märchen Erzählgut von Erwachsenen, besonders in analphabetischen Gesellschaften. Als Ersatz für Zeitung und Buch befriedigte damals das Märchen das Informations- und Unterhaltungsbedürfnis sowie die Lachlust und Klatschsucht der Gesellschaft. Das Märchen bietet uns in seiner phantasievollen Form eine Lebenshilfe an. Konflikte werden gelöst und Modelle zur Problembewältigung werden geboten. Von Hass und Liebe, Bosheit und Güte, Weisheit und Dummheit, Geiz und Freigiebigkeit oder auch von Armut und Reichtum wird erzählt. Kein Wunder, dass besonders heute, wo Geld und Terror unsere Welt zu regieren scheinen, das Märchen ein Revival erlebt. „Märchen enthalten die große Hoffnung aller Menschen, dass das Böse aus der Welt verschwindet, das Gute belohnt wird und auch der Arme zu seinem Recht und Glück kommt“, meint Lutz Röhrich, ein bedeutender Märchenforscher aus Freiburg. Märchen verkörpern den Glauben an eine letzte Gerechtigkeit, sie sind eine Art Religionsersatz, bestätigt Wienker-Piepho.

Den Froschkönig an die Wand werfen
Die oft unbewusste Beeinflussung durch Märchen zeigt sich, wenn man im Alltag Märchenmotive entdeckt. Nicht nur haben sie sich in unsere alltägliche Sprache eingenistet, das „Aschenputteldasein“ der Armen, das „Tischlein-deck-dich“-Leben der Reichen, oder der „Sei doch kein Frosch“-Ausruf, sondern auch in der Werbung werden sie als effektives Mittel eingesetzt. „Red Bull“ beflügelt Rapunzel, ein Keks der „Prinzenrolle“ weckt Dornröschen aus dem hundertjährigen Schlaf. Doch nicht nur in Deutschland haben Märchen eine wichtige gesellschaftliche Bedeutung erlangt. „Die Märchensammlung der Gebrüder Grimm ist nach der Luther-Bibel das auflagenstärkste Buch der Welt“, erklärt Wienker-Piepho die Bedeutung der Grimmschen Märchen. Im Juni 2005 wurde die Märchensammlung von der UNESCO in die Liste der wichtigsten menschlichen Schriften aufgenommen und zum „Weltdokumentenerbe“ erklärt. Das Erstaunliche daran ist, das Märchen aus aller Welt eine seltsame Übereinstimmung aufweisen. „ Sie gleichen sich, nationale Märchen gibt es nicht“, berichtet Wienker-Piepho. Der Froschkönig kommt genauso in Indien wie in Frankreich vor. Natürlich variieren sie, mal ist es eine Schlange, die geküsst werden muss, mal muss der Frosch an die Wand geworfen werden, um sich in einen Prinzen zu verwandeln. „Alle Menschen in aller Welt sind auf einer ganz elementaren Ebene gleich, sonst gäbe es die sich gleichenden Märchen nicht“, erklärt die Münchner Ethnologin das Phänomen. Dieser Gedanke verleiht Märchen auf einer internationalen Ebene eine große völkerverbindende Kraft. Ein Zauberschleier, der alle Menschen in seinen Bann zieht, umhüllt die Märchen, sonst hätten sie sich nicht über Jahrtausende hinweg so bewähren können. „Nur was wichtig ist und den Menschen unmittelbar berührt, wird weitererzählt“, meint Röhrich.

Puppenkiste: Steigbügelhalter der Phantasie
Vielleicht lässt der Zauber der Märchen den Erfolg der Puppenkiste erklären, die in diesem Jahr eine Platzauslastung von 99% vorweisen kann. „Unser Bekanntheitsgrad in Deutschland liegt bei 92%. Das ist mehr, als der Kanzler hat“, freut sich Marschall. Besonders die Fernsehauftritte von „Urmel“ und „Jim Knopf“ sind verantwortlich dafür, dass das Puppentheater inzwischen zu einem Synonym für seine Heimatstadt geworden ist. Viele Deutsche reisen eigens nach Augsburg, um den Zauber der Puppenkiste einmal wahrhaftig mitzuerleben und einer Märchenvorstellung beizuwohnen. Der Erfolg mag sich aus den vielfältigen Assoziationen begründen, die jede Vorstellung der Puppenkiste bei ihren Zuschauer weckt. „Wie ein gutes Buch lebt jede Vorstellung von der Phantasie des Besuchers. Man muss sich darauf einlassen, sonst bleibt der Holzklotz nur ein Holzklotz“, wie der Chef aller Marionetten erläutert. In unserer perfektionierten und hektischen Welt ist nicht viel Raum für Phantasie geblieben. Fernsehen und Film liefern vorgefertigte Bilder und ersticken die Kraft der Imagination. Auch das macht die Augsburger Puppenkiste so einzigartig. „Wir sind“, erklärt der Puppenkistenleiter, “ein Steigbügelhalter für die Phantasie unserer Besucher“.

Es war einmal…
Die Kunst, mit Leichtigkeit in die Welt der Phantasie einzutreten, scheint mit wachsendem Alter immer schwieriger zu werden. Die kurze Reise des Kindes wird zur langen Odyssee des gereiften Erwachsenen. Doch es lohnt sich, nach dem verborgenen Schatz der Vorstellungskraft auf dem Grund unserer Seele zu tauchen. Ein Anfang könnte darin bestehen, die Grimmsche Sammlung in die Hand zu nehmen, den Staub sachte abzuwischen, und sich langsam in das Land der Märchen vorzutasten, um sich dort für einige Momente zu verlieren. Noch einfacher ist es, sich von der Augsburger Puppenkiste an die Hand nehmen zu lassen. Ohne die Hilfe süßer Brause lernen wir so wieder das Fliegen – in unserem ganz eigenen Märchen. Es war einmal…

Lass die Puppen tanzen

1940 Der Soldat Walter Oehmichen entdeckt in Frankreich das Puppentheater. Verpackt in einer Kiste unterhält es seine Kameraden.
1944 Nicht nur weite Teile Augsburgs brennen ab, auch der „Puppenschrein“ im Augsburger Stadttheater wird kurz nach einer Vorstellung ausgebombt
1948 Premiere im Heilig-Geist-Spital Elias Holls mit dem „gestiefelten Kater“, das Publikum nimmt auf Biergartenstühlen Platz
1998 Die Puppenkiste wird 50. Bis dahin hat sie mehr als 15.000 Vorstellungen gegeben und unzählige Fernsehproduktionen ungesetzt. „Urmel aus dem Eis“ hat es bis nach Kuwait geschafft

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