Bereits Voltaire hat sich mit der Frage des Lügens beschäftigt. „Alles was du sagst, sollte wahr sein. Aber nicht alles, was wahr ist, solltest du auch sagen.” Ziemlich clever, der Mann! Der presstige-Redakteur Maximilian Grundler hat sich die Worte dieses großen Dichters und Denkers zu Herzen genommen und eine Woche lang den Selbstversuch gewagt.
Von Maximilian Grundler
Natürlich habe ich mich mit den Ansichten des Philosophen nicht begnügt und vor meiner Woche der Wahrheit sicherheitshalber einige meiner Freunde zu ihrer Meinung befragt: Zählt das Verschweigen einer Wahrheit mit dem Ziel der Täuschung bereits als Lüge? Was zum Beispiel, wenn dich dein heißes, fallschirmspringendes Date fragt, was du am Wochenende so alles gemacht hast und du in Wahrheit hauptsächlich geschlafen, vor dem Computer gegammelt und nur einmal das Haus für ein paar Tassen Glühwein verlassen hast? Ist es dann bereits eine Lüge, wenn du lässig abwinkst und sagst, „Ach, nichts Besonderes“? Doch ich habe Glück! Die meisten sind mit Voltaire einer Meinung. Puh!
Angst? Ich doch nicht!
Die Woche fängt eher harmlos an. Ich hatte eigentlich erwartet, sofort von meinem Mitbewohner getestet zu werden, ob ich wirklich nicht lüge. Doch es kommt nichts! Auch ein paar weitere eingeweihte Leute halten sich erstaunlicherweise zurück. Ich treffe mich mit zwei Kommilitonen auf einen Kaffee. Langsam werde ich ungeduldig. Die Nachmittagssonne wirft bereits lange Schatten über den Campus und ich habe mir immer noch keine Lüge verkneifen müssen! „Mich würde mal interessieren, wovor ihr denn eigentlich Angst habt“, werfe ich in die Runde. Hoffentlich ein ausreichend provokatives Thema… Nach ein paar Klassikern wie „Spinnen“, „Schlangen“ oder „Höhenangst“ kommt endlich eine Gegenfrage, die mich auf die Probe stellt. „Und du, wovor hast du Angst?“ „Vor Haien, beim Surfen“, antworte ich. „Und vor Fischen, beim Nacktbaden.“ Jaja, lacht ruhig!
Verkaufsgespräch mit Griff ins Klo
Heute geht’s an die Arbeit! Mal sehen, wie sich mein Gelübde mit meinem Job als Seifenverkäufer verträgt! Ich spüre ein Tippen auf der Schulter und drehe mich zu der konzentriert schnüffelnden Kundin um. „Finden Sie nicht auch, dass dieses Körperpeeling irgendwie sehr nach Klostein riecht?“ „Hmm,“ grummle ich nach einer kurzen Geruchsprobe und streiche mir nachdenklich durch den Bart. Meine Chefin steht direkt neben mir und beäugt mich kritisch. „Sie haben Recht, es riecht ein bisschen danach.“ Beide schauen mich entgeistert an. Schnell schiebe ich nach, dass es aber schon ein bisschen besser als Klostein rieche. „Der Zitrusduft ist irgendwie fruchtiger, finden Sie nicht?“
Es geht nichts über ein sauberes Mundgefühl
Meine erste richtige Herausforderung in dieser Woche: Ich treffe mich mit einem süßen Mädchen auf einen Kaffee. Beim Gespräch über die Macken unserer Mitbewohner wird es dann spannend. „Immer wenn ich frühstücke,“ beklagt sie sich, „kommt mein Mitbewohner mit Schaum vor dem Mund in die Küche spaziert und putzt sich seelenruhig seine Zähne. Das ist so widerlich!“ Hmm, wenn sie wüsste, wo ich schon überall Zähne geputzt habe! Obwohl ich ja die Wahrheit verschweigen könnte, entscheide ich mich dafür, alles auf eine Karte zu setzen und keine Geheimnisse für mich zu behalten. „Als ich noch auf dem Land gewohnt habe, hat mich mein Kumpel immer mit in die Stadt genommen. Da war ich oft im Zeitstress und habe im Auto noch Zähne geputzt.“ Ihr angewidertes Gesicht verrät mir, dass es wohl eher zu keinem zweiten Treffen kommen wird…
Flunkerstille!
Wie in den vergangenen Tagen habe ich weiter unerbittlich nach Gelegenheiten gesucht, der Wahrheit direkt in die Augen blicken zu können. Doch so sehr ich mich auch bemühte, es kam kaum mehr zu entsprechenden Situationen. Woran mag das liegen? Vielleicht sollte ich meinen Lebensstil überdenken, ich bin wohl einfach von Grund auf zu ehrlich. Eine Einsicht, die mir eigentlich ein ganz gutes Gefühl verleiht: Ich komme auch ohne Lügen glücklich durchs Leben. Sieben Tage, dass ich nicht lache, ich könnte das ewig so weiter machen!
Der verflixte siebte Tag
Den letzten Tag des siebentägigen Selbstversuches lasse ich gemütlich angehen. Viel kann ja nicht mehr schiefgehen, wem läuft man am Sonntag schon über den Weg? Virtuell könnte ich es ja mal versuchen. Mit der Frühstückssemmel in der Hand tippe ich einhändig erst mal eine siegessichere Statusmeldung bei Facebook ein: “Sieben Tage ohne Lügen – geht doch!”
Auf einmal springt ein Fenster auf, das um eine Spende für den Virenscanner bittet. Es bietet mir zwei Optionen an: „Spenden“ und „Ich habe bereits gespendet“. Ohne zu überlegen klicke ich reflexartig auf letzteres. Noch bevor das Fenster wieder verschwindet, bemerke ich meinen fatalen Fehler! Denn genaugenommen habe ich gelogen.
So alltäglich diese Minilüge auch sein mag, sie bringt mich dennoch dazu, meinen Selbstversuch neu zu reflektieren. Auch wenn der Gedanke schön ist, immer nur die Wahrheit von sich zu geben, es ist wohl gar nicht möglich, und auch nicht nötig, komplett flunkerfrei zu leben. Die Lüge ist oft einfach so praktisch, dass man sie möglicherweise nicht einmal bemerkt! Sie geht einem leicht über die Zunge, auch über die ungespaltene. Wer weiß, vielleicht habe ich in den sieben Tagen auch mehr gelogen, als mir bewusst ist…