Oder: Wie ich zur Muttersprachlerin wurde
Von den Höhen und Tiefen des Deutschlernens in einer Übergangsklasse und dem Weg zum Abitur. Erinnerungen unserer Autorin an die Zeit vor zehn Jahren.
Lernt, lernte, hat gelernt
Neben vielen angenehmen Stunden gab es auch viel Arbeit, die vor uns lag. Was in Deutschland aufwachsende Kinder in elf Jahren Schritt für Schritt lernen, mussten wir idealerweise nach einem Jahr beherrschen. Es stand selbstverständlich Grammatik und Rechtschreibung auf dem Plan: Nomen groß geschrieben, Verb an zweiter Stelle, Präsens, Perfekt, Präteritum, Plusquamperfekt, Nominativ, Genitiv, Akkusativ und Dativ. Tag für Tag. Da ohne Wortschatz jegliche Grammatik unnütz gewesen wäre, mussten wir zusehen, dass wir so viele Wörter wie möglich auswendig lernen. Was mit Wortfamilien wie ,Schule‘ und ,Familie‘ begann, musste schon bald auch bei längeren Texten funktionieren. Dass dafür die Zeit in der Schule nicht ausreichen konnte, verstand ich überraschenderweise schon damals. Oft saß ich das ganze Wochenende über dem Auftrag, „eine vierseitige Kurzgeschichte zu lesen und zu verstehen“. Was sich ziemlich einfach anhört, bedeutete für mich: Ungefähr jedes zweite Wort markieren, im Wörterbuch nachschlagen, eine für den Kontext geeignete Übersetzung finden, das Wort in mein Vokabelheft schreiben, auf eine Karteikarte übertragen, zehnmal alle Karteikarten üben, Text noch einmal lesen, Karteikarten so lange üben, bis ich die Geschichte beim Lesen komplett verstand.
Immer wieder werde ich gefragt, wie ich das denn damals geschafft habe. Meine ehrliche Antwort lautet: „Ich weiß es nicht.“ Und je mehr Zeit vergeht, desto mehr vergesse ich, wie hoch der Aufwand damals für mich und auch für meine Eltern war. Das ganze Jahr war in allen Lebensbereichen vom Deutschlernen erfüllt: Fernsehen, Bücher, Zeitschriften, Kino auf Deutsch. Alles gehörte dazu und ich hatte manchmal das Gefühl, dass mir gleich der Kopf platzt. Einen Tipp habe ich an euch, falls ihr jetzt eine Sprache lernen müsst: Redet, hört, schreibt und denkt in dieser Sprache! Funktioniert wirklich.
Die Zeit auf dem Gymnasium
Im Juli 2004 absolvierte ich einen Einstufungstest in Deutsch, Mathematik und Englisch. Und landete auf einem Mädchengymnasium in der sechsten Klasse, obwohl ich ein Jahr älter war als alle anderen. Während ich mich nach einem Jahr in der Übergangsklasse wie ein Deutschprofi fühlte, war ich auf dem Gymnasium plötzlich die Ausländerin, die nichts verstand – trotz eines deutschen Namens und der deutschen Staatsbürgerschaft. Schwerer noch als das Deutschlernen war die kulturelle Anpassung an das Leben hier und an die hämischen Klassenkameradinnen, die damals noch nicht zu den toleranten Erwachsenen herangewachsen waren, die sie heute sind. Fehlende sprachliche Fähigkeiten setzten sie mit Dummheit gleich.
Ich bekam in meinem mittlerweile zweiten Jahr in Deutschland keine Zeugnisnoten in Deutsch, trotzdem wurden meine Arbeiten korrigiert: eine Fünf im Jahrgangsstufentest, eine Sechs im Aufsatz, eine Vier für den Leserbrief. Besonders aufbauend war dieses Schuljahr nicht. Aber nach dem Arbeitsaufwand der Ü-Klasse konnte mich auch das Gymnasium nicht mehr abschrecken. Ich sah nur ein Ziel vor mir: das Abitur. Wer weiß, was aus mir geworden wäre, hätte es diesen Lehrer nicht gegeben, der meinen ersten Aufsatz in der siebten Klasse mit einer Eins benotete. Oder diese Deutschlehrerin, die immer an mich glaubte und mir das Gefühl gab, dass ich alles schaffen würde, wenn ich es nur wollte.
Nach sieben Jahren Gymnasium hielt ich endlich mein Abiturzeugnis (Note 1,3) in der Hand und bin inzwischen seit mehreren Semestern Studentin an der Uni Augsburg. Ich hoffe, ihr versteht, dass ich meinen Namen nicht preisgeben möchte. Und ich kann nur hoffen, dass es auch in Zukunft Leute geben wird, die nicht nur Talente fördern, sondern sich auch denjenigen zuwenden, die besondere Hilfe benötigen – egal ob beim Deutschlernen oder anderswo.
*Name von der Redaktion geändert