Presstige auf der London Fashion Week
Fashionweek London. Jeder, der in der Modebranche etwas zu sagen hat und jene, die es sich einbilden, tummeln sich auf den Straßen der Metropole. Inmitten wiederbelebter Cordanzüge, bunt gemixter Muster und wallender Kleider: die presstige. Redakteurin Rebecca hat sich für euch umgesehen und erkannt, wie viel Arbeit und wie wenig Glamour hinter dem Zauber einer Fashionshow steckt.
Illustration: Lisa Naunheimer
„Agi und Sam“ ist ein junges und frisches Männermodelabel aus London. Das sympathische Designduo ist noch keine dreißig und bereits auf dem Weg nach ganz oben. Die klassischen Schnitte gepaart mit neuartigen Prints begeistern immer mehr modische Männer. Gemeinsam haben es Grafikdesigner Sam und Modedesigner Agi in diesem Juni sogar auf den Londoner Laufsteg geschafft. Und ich habe es irgendwie geschafft, dabei zu sein. Über meine Schwester und Modepraktikantin Lisa schleiche ich mich in das Atelier ein.
Noch sechs Stunden bis zur Show
Der Tag der Show fängt für mich früh an. Gemeinsam mit Lisa eiere ich um 9 Uhr morgens ins Studio. Die Nacht ist gerade erst zu Ende gegangen. Lisa und ihre Kollegen haben noch bis spät gearbeitet: Nähte versäubern, Säume umnähen und Druckknöpfe anbringen. Letzteres ist auch meine Aufgabe – eine idiotensichere Arbeit für ungelernte Nichtpraktikanten. Von Glamour und dem Zauber der Modebranche kann ich hinter meiner Stanzmaschine nicht viel sehen. Auch im restlichen Studio sieht es mehr nach Werkstatt als nach Atelier aus: Die fertige Kollektion verweilt neben Pappkartons, Büsten teilen sich den Stauraum mit Mülleimern und die Tischplatten verschwinden unter zerknülltem Paper. Überall liegen unfertige Mäntel und Hosen. Auch kurz vor Showbeginn ändert sich daran nichts. Panik. „Wir packen die Sachen jetzt ein und machen den Rest vor Ort“, erklärt mir Lisa. Und wenn es nicht fertig wird? Wenn ich nicht mehr alle Druckknöpfe anbringen kann? Der Druck lastet allein auf dem Stanzer und seiner Maschine. Noch eineinhalb Stunden bis zur Show…
Die Kollektion, die in den Tiefen der Designerwerkstatt entsteht, ist inspiriert von Großvätern und deren alltäglichem Leben. Die Prints gleichen den bunten Polstermöbeln der Busse, die wir an London so lieben. Die Silhouetten der Mäntel sind gerade, die Schnitte oversized, jede Hose endet noch bevor es das Bein tut.
Noch eine Stunde bis zur Show
Die Models sind in der Maske, die Kleider, die sie präsentieren sollen, noch nicht fertig. Der Backstage-Raum ist überfüllt von Leuten. Jeder geht seinem eigenen Geschäft nach. Die Fotografen fotografieren. Die Maskenbildner bilden Masken. Die Praktikanten praktizieren. Ich stanze. Erst eine halbe Stunde vor Beginn setze ich den letzten Druckknopf ein.
Zeit, sich einmal genauer umzusehen: Ich finde mich wieder in einem Raum voller Männermodels. Hier ein Oberkörper, da eine Unterhose. Nett. „Eure Models dieses Jahr sind so unfähig“, spricht mich der Schönste im Raum an. Nicht nett. Sollte das etwa der wahre Charakter der Modebranche sein: Stress und Konkurrenzkampf? Wo bleibt dabei der Glamour? Sicherlich finde ich den auch nicht bei den Modelfüßen, die ich kurz darauf mit einem Schuhlöffel in einen Schuh hebele. Sowieso ist es hier viel zu unruhig für Glamour: Die Models rennen halb angezogen von Kleiderständer zu Kleiderständer, die Choreografen der Show sprechen unentwegt in ihre Walkie-Talkies, die Praktikanten nähen noch immer an den Showoutfits herum. Statt Kaviar und Champagner gibt es Wasser und fettige Chips.
Noch zehn Minuten bis zur Show
Ich betreue Markus, ein britisches Model. Meine Aufgabe: einmal anziehen und auf den Laufsteg schicken. Doch während jedes Model bei seinem Betreuer steht, fehlt von Markus jede Spur. Mithilfe eines Bildes versuche ich ihn aufzuspüren. Doch ich merke schnell, im Prinzip sieht jedes Männermodel gleich aus: ausgeprägte Wangenknochen, strenger Blick, schlank und groß. Vor dem Ausgang bildet sich bereits eine Schlange akkurat hintereinander aufgestellter atmender Kleiderständer. Alle warten auf Markus. Als er endlich kommt, reiße ich sein Outfit vom Bügel, doch das enge Shirt will einfach nicht über seinen Kopf. Er ist zu dick. Wie kann ein so dürrer Mann einen so dicken Kopf haben?
Noch fünf Minuten bis zur Show
Markus steht in der Reihe. Ich atme auf. Lisa bittet mich, ihr beim Kleiderwechsel ihres Models zu helfen. Amato soll zwei Outfits präsentieren. Sein Kopf ist auch kleiner. Dass es plötzlich losgeht, merke ich erst, als Amato gerade wieder durch den Vorhang schlüpft. Ich bin zuständig für die Hose. Unsicher packe ich Knopf und Reißverschluss und entkleide ihn in wenigen Sekunden. Ihn, Amato – das Männermodel.
Nach zwei Minuten ist es auch schon wieder vorbei. Die Stimmung hinter den Kulissen wird lockerer und ich fühle mich irgendwie gut. Ich habe bei einer echten Modenschau geholfen! Von der Show selbst habe ich zwar nichts gesehen, aber ich würde um keinen Preis mit denen da draußen tauschen wollen. Nur hinter den Kulissen sind die Models nackt!
Alle Kleider wieder auf den Bügeln, steht die ganze Belegschaft schließlich vor den Toren der Location. Warten auf Taxis. Die Kleiderständer stehen auf der Straße, die Taschen und Accessoires liegen auf dem Asphalt. „Wie viel für die blaue Tasche?“, fragt eine Passantin einen Praktikanten. Woher soll sie auch wissen, dass die Tasche unter der Plastikfolie 800 Euro kostet.