Der Staat, das ist doch dieser riesige, verwirrende Apparat, der ständig etwas von seinen Bürgern will und nur widerwillig etwas zurückgibt. Diese Grundüberzeugung ruht in Vielen und beschert ihnen ein mulmiges Gefühl, wenn sie etwas beantragen oder ein Polizeiauto sehen. Doch ist der Staat tatsächlich eine mächtige und unberechenbare Gewalt, die seine Bürger trifft wie ein Blitz? Die Beharrlichkeit nicht anerkannter Staatsbürger und ein Blick in das deutsche Grundgesetz bringen vielleicht auf andere Gedanken.
Immer mal wieder haben Menschen den Staat, aus dem Sie kommen, satt und gründen einen eigenen. Meist handelt es sich dabei um winzige Zwergstaaten, wie zum Beispiel das 1967 vom britischen Ex-Major Paddy Roy Bates gegründete Fürstentum Sealand. Nur zehn Kilometer vor der englischen Küste besetzte er eine alte Betonplattform, die einmal eine Militärbasis gewesen war, und erklärte sie zu einem unabhängigen Fürstentum, das er notfalls mit Waffengewalt verteidigte. Sogar einen Putsch in den 1970er Jahren konnte er abwehren. Als Staat wird die kleine Steueroase allerdings bis heute nicht anerkannt. Eine eigene Währung, Briefmarken, Pässe und vor allem zwei Dutzend unbeirrbarer Staatsangehöriger gibt es trotzdem. Wegen der Liebe zu ihrer Betonplattform haben diese treuen Sealander sogar schon dafür gesorgt, dass sich deutsche Botschafter und Gerichte mit dem Nichtstaat befassen mussten – und das hat mehr mit echter Staatlichkeit zu tun als man vielleicht zuerst denken würde.
Dass die Bundesrepublik Deutschland ein echter Staat ist, steht bei ernsthafter Betrachtung außer Frage. Allerdings wird man hierzulande eine Weile nach Bürgern suchen müssen, denen die pure Existenz ihres Heimatstaates so am Herzen liegt wie der Bevölkerung Sealands. Häufig dominiert ein etwas wehleidiger bis resignierender Unterton, wenn der Deutsche vom Staat und seinen Behörden spricht. Zu mächtig sei er, allgegenwärtig, aufgebläht und undurchsichtig. Vor allem wenn die Bürger etwas von ihm wollten, begäben sie sich in die Hände einer undurchsichtigen Macht. Der Grundtenor an vielen Stammtischen: „Der Staat macht doch eh‘, was er will und der Dumme ist der kleine Mann!“ Doch hält das einem genaueren Blick stand?
Kolumne: Müller will reden
Meinung ist tot? Nicht mit uns, denn unser Chefredakteur Michael Müller ist überzeugt, dass es Dinge gibt, die man nicht wissen kann, aber über die es sich zu reden lohnt. In Zeiten harter Fakten glaubt er an das lose Mundwerk, denn wohin sonst mit all den gesammelten Informationen? Mal geht es um Wichtiges, mal um den Rest, aber immer gilt: Keine Angst, Müller will nur reden. Die Kolumne erscheint immer donnerstags und wird von Isabell Beck illustriert. Alle Folgen von “Müller will reden” zum Nachlesen.
Deutschland ist ein Rechtsstaat. Deshalb kann eine Behörde nur handeln, wenn es ihr ein Gesetz oder eine Rechtsverordnung erlaubt. Eine solche Rechtsgrundlage muss letztlich immer auf ein Parlament zurückgehen, dessen Mitglieder direkt von den Deutschen gewählt wurden, also einen Landtag oder den Bundestag. Das liegt daran, dass Deutschland zudem eine Demokratie ist. Damit wirklich etwas geschieht, handelt dann ein Beamter. Nimmt der das mit der Staatsgewalt etwas zu wörtlich und wird ohne Grund handgreiflich, kann der Betroffene Bürger den Staat dafür verklagen. In Deutschland hat er dann gute Chancen zu seinem Recht zu kommen. Dasselbe gilt übrigens, wenn ein Student fälschlicherweise kein BAföG bekommt. Bleibt also festzuhalten: Hinter der unsichtbaren Macht des Staates stecken Gesetze, die von uns bestimmte Vertreter gemacht haben und die wir jederzeit einsehbar können.
Doch es gibt einen noch wichtigeren Grund, warum der Staat mit jedem seiner Bürger etwas zu tun hat. Es ist derselbe, aus dem Gesetze gelten. Letztlich gibt es den Staat und seine Regeln nur solange, wie sie von der überwiegenden Mehrheit seiner Bürger akzeptiert werden. Der überwiegende Teil der Deutschen lebt in Deutschland, weil er sich hier wohl fühlt, die Gesetze für gerecht hält und gesellschaftliche Perspektiven sieht. Wer das anders sieht, könnte zum Beispiel in Erwägung ziehen, das Land zu verlassen. Wenn sich viele Bürger von ihrem Staat unterdrückt fühlen, kann es sogar zu Revolutionen kommen, wie es im arabischen Frühling geschehen ist. Allein deshalb kann ein Staat noch lange nicht unbegrenzt machen, was er will.
Hierzulande gibt es jedoch noch eine viel elegantere Methode, der Unzufriedenheit mit dem Staat Luft zu machen. Wie bereits gesagt, ist Deutschland demokratisch. Deshalb müssen seine Bürger, wenn ihnen das Vorgehen oder die Regeln des Staats nicht passen, nicht auswandern oder sollten schon gar nicht zur Gewalt greifen. Sie können ganz einfach offen darüber sprechen. Dazu müssen sie auch gar nicht in die Politik gehen. Hier hat jeder das Recht frei seine Meinung zu sagen. Das gilt gegenüber dem Staat, dem Arbeitgeber oder einfach nur dem Nachbarn. Jeder, der mit latenten Drohungen etwas dagegen tun möchte, handelt ungerecht und setzt sich einer ganz anderen Macht aus: der Öffentlichkeit. In Zeiten des Internets ist es leichter denn je, die eigene Meinung unter das Volk zu streuen. Wir können überall und jederzeit um die Zustimmung unserer Mitbürger werben, können Unterschriften sammeln oder an einem Wahlkampf teilnehmen. Vor allem können wir jedoch im Alltag diskutieren und sagen, was uns ungerecht vorkommt. Vielleicht entsteht einmal eine Mehrheit daraus, allein werden wir jedoch nur in den seltensten Fällen sein. So funktioniert die Politik schon im Kleinen und so kommt es manchmal bis auf höchste Ebene zu staatlichen Entscheidungen. Wenn bereits eine Hand voll Sealander die große Bundesrepublik Deutschland zu einer Art diplomatischer Beziehung zwingen konnte, was können dann theoretisch über 80 Millionen Deutsche erreichen?
Gerade junge Studenten sollten diese Chance nutzen, denn einige von ihnen werden irgendwann selbst Entscheidungen treffen. Dann wäre es voraussichtlich gut für alle in der Gesellschaft, wenn sie sich schon einmal mit gesellschaftlichen Fragen auseinandergesetzt und das Entscheiden geübt haben. Das funktioniert natürlich nicht, wenn der Staat immer nur als fremde Bedrohung wahrgenommen wurde. Letzten Endes ist ein Staat nur eine Idee, ein Gerippe aus Regeln, das ohne seine Bürger so leer ist wie die Gebäude seiner Behörden an einem Sonntagnachmittag. Die langen Gänge wirken mit diesem Gedanken im Hinterkopf doch gleich viel weniger bedrohlich, oder?