Seit mehr als einem halben Jahr pocht presstige an dieser Stelle auf die eigene Meinung. Eigentlich höchste Zeit, einmal darüber nachzudenken, was eigentlich so wichtig daran ist. Warum dabei eine große deutsche Zeitung und der Einstieg in das Berufsleben ins Spiel kommen? Lest selbst und vor allem: Bildet euch eine Meinung dazu!
In der vergangenen Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (F.A.S.) haben es die Studenten tatsächlich in den Politikteil geschafft – allerdings können sie sich darauf leider keineswegs ausruhen. Unter dem Titel „Gaudium generale“ rechnet der Autor mit der aktuellen Studentengeneration ab. Er kreuzt das alte Klischee vom Müßiggänger mit etwas modernerer Kritik am Hedonismus und zieht ein düsteres Fazit: Wir Studenten sind größtenteils ziellos und haben uns vor allem auf den Campus verirrt, um dem richtigen Ernst des Lebens noch einige Zeit zu entgehen. Auf den ersten Blick klingt das nach der üblichen Studentenschelte, die es in regelmäßigen Abständen in die Medien schafft. Oft genug verfasst von Personen, die selbst noch nie oder schon lange nicht mehr auf einem Campus waren. Also schnell weiterblättern?
Kolumne: Müller will reden
Meinung ist tot? Nicht mit uns, denn unser Chefredakteur Michael Müller ist überzeugt, dass es Dinge gibt, die man nicht wissen kann, aber über die es sich zu reden lohnt. In Zeiten harter Fakten glaubt er an das lose Mundwerk, denn wohin sonst mit all den gesammelten Informationen? Mal geht es um Wichtiges, mal um den Rest, aber immer gilt: Keine Angst, Müller will nur reden. Die Kolumne erscheint immer donnerstags und wird von Isabell Beck illustriert. Alle Folgen von “Müller will reden” zum Nachlesen.
Nun ja, ganz so einfach ist die Sache nicht. Denn erstens gibt der Beitrag erst einmal die Meinung des Autors wieder. Nur ist der gerade einmal Anfang dreißig und Absolvent geisteswissenschaftlicher Studienfächer. Doch das ist noch nicht die eigentliche Provokation dabei. In weiten Teilen des Kommentars meldet er sich selbst nämlich gar nicht zu Wort. Stattdessen fragt er einfach die Studenten, warum sie eigentlich eine Hochschule besuchen. Lässt uns sozusagen selbst sprechen und entblößt uns als Studenten ohne feste Meinung zu unseren Fächern oder dem Studium allgemein. Scheinbar wissen wir teilweise gar nicht, warum wir ein Studium wählen oder daran festhalten. Vielen der Interviewten fällt dazu nur ein, was sie durch das Studium aufschieben können (z. B. den Berufseinstieg) oder, was sie stattdessen auf keinen Fall machen wollten (z. B. eine Ausbildung). Selbst die motivierten Studenten, die gegen Ende des Kommentars doch noch ihren Auftritt haben, bleiben eine positive Antwort auf diese Frage schuldig. Der Autor provoziert also gar nicht so sehr mit seiner Meinung, sondern viel eher damit, dass vielen von uns eine fehlt.
Nicht nur Selbstverwirklichung, …
Natürlich wählen Journalisten sorgsam aus, wen es zu zitieren gilt, um die eigene Botschaft am besten zu überbringen. Trotzdem kommen mir die Zitate aus dem eigenen Alltag erschreckend bekannt vor. Kommt im Gespräch mit Kommilitonen die Frage auf, was sie in ihrem Studium hält, klingen die Antworten oft pragmatisch bis gleichgültig: Man studiert, weil es die anderen auch tun. Hauptsache am Ende stimmen der Abschluss und das Gehalt. Es ist halt ruhiger als eine Ausbildung und ein Job. Manchmal ist von enttäuschten Erwartungen die Rede, aber die reichen nur selten aus, um über eine Veränderung nachzudenken. Auch hier höre ich nur wenig greifbare Meinungen und vieles, was sich eigentlich gar nicht auf das Studium selbst bezieht. Klar, der Kommentator aus der F.A.S. springt gerne in diese Bresche. Unsere Meinungslosigkeit sei gerade der Grund für das Studium. Denn vor allem diejenigen unter uns mit lascher Arbeitshaltung studieren, um der Verantwortung für das eigene Leben noch etwas länger aus dem Weg zu gehen.
Spätestens jetzt wäre es Zeit für einen Sturm studentischer Entrüstung. Doch was, wenn er Recht hat? Meinungen haben tatsächlich eine Menge mit Verantwortung zu tun, denn sie sind die Basis unserer Entscheidungen. Häufig behandeln wir Meinungen in solchen Situationen als die schlechtere Alternative zu Fakten, doch das geht an der Realität vorbei. Erstens, weil eine fundierte Meinung sich immer auch auf Fakten stützt und zweitens, weil niemand von uns rein rational entscheiden kann. Daneben spielen persönliche Erfahrungen und Gefühle stets eine große Rolle. Eine Meinung bringt all das unter einen Hut. Sie ist quasi das, was wir aus Fakten machen, wenn wir sie individuell einordnen. Wenn Meinungen unsere Entscheidungen prägen, dann existieren sie allerdings nicht mehr nur in unserem Kopf. Vielmehr lassen wir selbst sie zur Realität werden. Das gilt immer wieder im Kleinen für unseren Alltag, doch ebenso im Großen für ganze Gesellschaften. Der offene Meinungsaustausch ist ein wichtiges Gut einer Demokratie. Davon geht auch das Grundgesetz aus, das die Meinungsfreiheit des Einzelnen gegen den Staat unter besonderen Schutz stellt.
… sondern auch Schutzmaßnahme
Nur was bringt eine persönliche Freiheit, die wir nicht nutzen? Selbstverständlich können und müssen wir nicht zu allem eine Meinung haben. Dennoch sollten wir bedenken, dass unsere Meinungen unser Leben prägen, ob wir es wollen oder nicht. Jedes Mal, wenn wir bewusst darauf verzichten, uns zu einem Thema eine Meinung zu bilden, geben wir also auch ein wenig Einfluss auf. Gerade unser Studium sollte uns da vielleicht eine Meinung wert sein, immerhin ist es der Einstieg in unser selbstständiges Leben. Selbst wenn uns unser Fach an sich egal ist, lernen wir immer noch, wie wir selbstständg und wissenschaftlich arbeiten. Dennoch wird das Studium so auf dem Weg zu unserem späteren Platz im Leben nur eine Überbrückungsphase bleiben. Wenn wir uns stattdessen überlegen, welche Erkenntnisse wir von unserem Studium erwarten, und es danach wählen, erhöhen wir unsere Chancen, genau die Ausbildung zu bekommen, die wir uns wünschen.
Vor allem schützt eine eigene Meinung aber davor, eine fremde aufs Auge gedrückt zu bekommen. Genau das macht nämlich der Kommentar der F.A.S., wenn er uns die Basis unserer eigenen Entscheidungen erklären will. Spätestens, wenn er uns Verantwortung einbläuen möchte, beginnt die Bevormundung. Nicht zuletzt, weil auch der Wunsch nach einer offenen Orientierungsphase ein guter Grund für ein Studium sein kann. Hier gilt es, lauthals die eigene Meinung entgegenzurufen. Deshalb gibt es diese Kolumne und deshalb ist sie dieses Mal schon fast ein Leserbrief.